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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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aggressiv wie sonst, weil er Tr ä nen immer als weiblichen Erpressungsversuch interpretierte, nein, heute hatte sie einen Grund. Aber ihr Weinen machte ihn noch hilfloser, als er ohnehin schon war. Er war noch nicht einmal in der Lage aufzustehen, zu ihr zu gehen und sie zu tr ö sten. Was sollte er auch sagen? Weine nicht, er wird schon wiederkom men? Wenn etwas passiert w ä re, h ä tten wir schon l ä ngst etwas erfahren? Keine Nachricht ist meist eine gute Nachricht? Glaub mir, es wird alles gut, tausende von Kindern verschwinden jedes Jahr und sind innerhalb eines Tages wieder da?
    Nein, das waren alles Phrasen, das meinte er nicht, es gab einfach keinen Trost. Und wenn er ehrlich war, hatte er auch nicht die geringste Hoffnung. Denn Benjamin war kein Abenteurer, es w ü rde ihm nicht im Traum einfallen, von zu Hause wegzulaufen. Er hatte eher Angst, in der Welt da drau ß en allein zu sein.
    Das hatte er auch alles dem Polizisten erkl ä rt, w ä hrend dieser vollkommen unbeteiligt die Vermisstenanzeige in seine vorsintflutliche Schreibmaschine hackte. Er hatte nur mit den Achseln gezuckt, was so viel hei ß en sollte wie: Das sagen alle.
    » Sie fangen erst morgen an zu suchen « , platzte es pl ö tzlich aus ihm heraus. » Diese verdammten Beamten ä rsche, diese Sesselpuper, die einem einfach nicht glauben, wenn man ihnen sagt, mein Sohn ist kein Kind, das abhaut! Die nur nach ihren d ä mlichen Vorschriften gehen, f ü r die Benjamin nur ein neues Aktenzeichen ist, das eben erst nach vierundzwanzig Stunden bearbeitet wird, und basta. Du glaubst gar nicht, was das da f ü r ein mieser, gleichg ü ltiger
    Sturkopp auf der Wache war! Ich h ä tte ihm am liebsten in seine gelangweilte Fresse geschlagen. « Peter war krebsrot vor Wut.
    » Ich kann es mir vorstellen « , fl ü sterte sie.
    » Sie meinen, er k ö nnte bei einem Freund sein und da ü bernachten. Bei einem Freund, den wir vielleicht gar nicht kennen. Oder er k ö nnte in irgendeinem Zug sitzen, um zu Oma und Opa zu fahren oder einfach in die gro ß e weite Welt. So einen M ü ll haben die mir erz ä hlt. Und weil eben f ü nfundneunzig Prozent aller verschwundenen Kinder nach vierundzwanzig Stunden wieder auftauchen, wird auch erst nach vierundzwanzig Stunden eine Fahndung eingeleitet. So ist das in unserem Beamtenstaat. « Peter verschluckte sich fast an seinem Bier und musste husten. » Und dieser Saftsack geht heute Abend nach Hause und schl ä ft den Schlaf des Gerechten. Denn nur, wenn es Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gibt, l ä uft die Maschinerie sofort an. Also wenn sie seine Sachen gefunden h ä tten oder Ä hnliches. Sie haben nicht genug Leute, um jeder Vermisstenanzeige sofort nachgehen zu k ö nnen, hat der Affe gesagt. Aber um die Falschparker aufzuschreiben, daf ü r haben sie genug Leute! «
    » Ich versteh das nicht « , murmelte Marianne.
    » Ich erst recht nicht. «
    » Mein Gott, es ist dunkel drau ß en. Und es schneit. «
    Peter knallte die leere Bierflasche auf den K ü chentisch und sprang auf. » Ich werde verr ü ckt hier drinnen. Ich kann nicht die ganze Nacht rumsitzen und mir vorstellen, wo er ist und was er macht. Ich halte das nicht aus! «
    Marianne flossen lautlos die Tr ä nen ü bers Gesicht, wie ein Brunnen, der st ä ndig ü berl ä uft. » Bitte « , sagte sie, » bitte sag mir irgendetwas, wo er sein k ö nnte. Wo ihm nichts passiert ist. F ä llt dir da was ein? Ich brauche etwas, auf das ich hoffen kann. «
    Peter schwieg. Anstelle einer Antwort legte er ihr f ü r einen Moment die Hand auf die feuchte Wange.
    Bevor er die Wohnung verlie ß , sagte er nur noch: » Bleib du am Telefon. « Dann fiel die T ü r hinter ihm ins Schloss.
    Marianne sa ß in ihrem Rollstuhl, hypnotisierte das Telefon und riss sich weiter die Haare aus.
    10
    Es war dreiundzwanzig Uhr f ü nfzig, als Peter den » Fu ß balltreff « verlie ß . Der Wirt erinnerte sich sp ä ter ziemlich genau daran, weil es auch der Moment gewesen war, als Werner sich von den ü brigen G ä sten mit gro ß er Geste verabschiedet und gesagt hatte: » linder, ich gehe jetzt zu Bett, ich w ü nsche euch allen eine angenehme Nachtruhe, und ich liebe euch alle. Das allein ist der Grund, warum ich auch morgen wiederkehren werde. « Bis auf geringe Ä nderungen in der Formulierung, war das im Allgemeinen der Wortlaut, mit dem Werner allabendlich seine f ü nfzehnst ü ndige Kneipensitzung beendete. Der Wirt begr üß te dies immer sehr, weil es die

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