Der Kindersammler
mach, dass mein Papa mich findet und dass er kommt und mich hier rausholt. Bitte, mach, dass er mir hilft Bitte, bitte, bitte, lieber Gott!
Benny lag — mit der zerrissenen Tischdecke an H ä nden und F üß en gefesselt — auf dem Bett, die Arme und Beine gespreizt und die Fesseln an den h ö lzernen F üß en des Bettes verknotet. Sein Mund war mit einem K ü chenhandtuch geknebelt. Er konnte nicht schreien und bekam nur sehr schlecht Luft. Au ß erdem waren seine Augen mit einem weiteren K ü chenhandtuch verbunden, sodass er nicht sehen konnte, was um ihn herum geschah.
Er lag auf dem R ü cken, und sein nackter K ö rper war mit einer kratzigen, karierten Decke zugedeckt, die Alfred ebenfalls in der Kommode gefunden hatte.
Das, was sich Benjamin so sehnlichst gew ü nscht hatte, war eingetreten, denn der b ö se Mann hatte f ü r eine Weile die Laube verlassen, um sich weiteren Alkohol zu organisieren. Aber Benny konnte nicht weg. Er hatte keine Chance, die Fesseln zu l ö sen.
Bitte, bitte, lieber Gott, hilf mir! Ich will auch keine Katze mehr. Ich trage auch jeden Tag den M ü lleimer runter. Ein ganzes Jahr lang jeden Tag. Ich mache, was du willst. Bitte, bitte, lieber Gott, du hast doch bestimmt eine Idee, du findest doch einen Ausweg! Oder wenn nicht, dann mach, dass ich tot bin. Aber der b ö se Mann darf nicht wiederkommen, bitte, bitte, lieber Gott ...!
8
auf der Sterbestation, wo er einen Kollegen mit Darmkrebs besucht und danach nie wieder gesehen hatte.
Das Schwein, das meinem kleinen Benny was angetan hat, bring ich um, schwor sich Peter in Gedanken, und er meinte es verdammt ernst.
Zur gleichen Zeit, als Alfred mit einer Flasche Ballantines unter dem Arm in die Laube zur ü ckkehrte, betrat Peter Wagner das f ü r seinen Wohnbereich zust ä ndige Polizeirevier der Direktion 5, Abschnitt 54, in der Sonnenallee 107.
Er war noch nie hier gewesen, hatte den Kopf voller Klischees und erwartete Betrunkene, die laut herumgr ö lten, halb nackte Prostituierte, die auf den Huren rauchten, muskelbepackte Bauarbeiter, die den Polizisten Pr ü gel androhten, minderj ä hrige Taschendiebe, die ihre L ü genm ä rchen erz ä hlten, vereinsamte alte Frauen, die sich verfolgt f ü hlten, oder Penner, die zusammengeschlagen worden waren.
Doch der lange Flur des Polizeireviers war leer und totenstill. Die Meldestelle hatte nur vormittags Sprechstunde — Peter Wagner war offenbar der Einzige, der dringend Hilfe brauchte.
» Ja? « , sagte der Pf ö rtner hinter einem vergitterten Fenster anstatt einer Begr üß ung, sah ziemlich ungehalten von seiner Bild-Zeitung auf und nahm die Brille ab.
» Ich m ö chte eine Vermisstenanzeige aufgeben, mein Sohn ist verschwunden. « Peter sprach ungew ö hnlich leise, als habe er Angst zu st ö ren.
» Zimmer 18 A, ganz hinten rechts, eine T ü r vor den Toiletten. « Der Mann setzte seine Brille auf und nahm die Zeitung wieder zur Hand.
Peter Wagner ging mit schweren Schritten den Flur entlang. Seine Gummisohlen quietschten auf dem gepunkteten Linoleum, und es roch merk w ü rdig nach Leberwurst. Wie im Krankenhaus
9
Marianne Wagner war kurz davor, schlappzumachen. Sie sa ß in ihrem Rollstuhl und war vollkommen konzentriert damit besch ä ftigt, sich die Haare auszurei ß en. Der Schmerz bet ä ubte die noch viel schmerzhafteren Gedanken, die Horrorvisionen, die sie einfach nicht loswurde.
Es war kurz vor acht, als Peter nach Hause kam. An der Art, wie er den Schl ü ssel auf die Flurgarderobe fallen lie ß , h ö rte sie, dass er nichts erreicht hatte. Sie f ü rchtete sich davor, ihn anzusehen. Seine Trauer war noch schwerer zu ertragen als ihre eigene.
Schweigend kam er in die K ü che, wo sie am Fenster sa ß , ging zum K ü hlschrank und nahm sich ein Bier heraus.
» Er war heute gar nicht in der Schule « , sagte sie in die Stille. » Ich habe mit Frau Blau telefoniert. Frau Blau dachte, er w ä re krank. «
Peter trank und sagte gar nichts. Marianne fiel es schwer zu sprechen. » Er hat in Deutsch eine F ü nf und in Mathe eine Sechs geschrieben. Vielleicht ist er deswegen nicht hingegangen. « Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen, aber jetzt konnte sie nicht anders. Das war das Unertr ä glichste. Dass er eventuell in sein Ungl ü ck gelaufen war, weil er es nicht gewagt hatte, zu Hause seine schlechten Zensuren zu zeigen. Was auch immer passiert war, es war ihre Schuld. Ihre und Peters.
Peter lie ß sie weinen. Es machte ihn nicht
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