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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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erlebt hatte, nur dass sie für Daniel alles andere als wunderbar gewesen war. Und jetzt, jetzt endlich, war er an den Ort zurückgekehrt, der seit drei Jahren regelmäßig in seinen Träumen wiederkehrte, was ihn mit tiefer Dankbarkeit erfüllte. Hier in diesem Bauwagen wollte er in den kommenden Tagen nichts weiter tun, als sich seinen Erinnerungen hinzugeben. Vielleicht gelang es ihm, noch einmal zu spüren und zu genießen, was er mit Daniel und Benjamin immer und immer wieder getan hatte. So lange, bis er ihr Flehen erhören und Gnade walten lassen konnte. Er war barmherzig und schickte sie in die Freiheit, in den Tod, auch wenn er sie dadurch verlor. Er hatte die Macht, und er liebte sie.
    Der Regen wurde immer stärker. In diesem Moment wünschte er sich, jetzt nicht allein zu sein, obwohl die Erinnerungen wunderbar waren und niemand sie ihm mehr nehmen konnte. Er hatte nicht viele Bedürfnisse, glaubte, ein bescheidener Mensch zu sein, und sehnte sich nur danach, Kinder zu finden, die zitternd und bebend in seinen Armen lagen und auf einen Ausweg hofften, ihrem Schicksal zu entgehen. Dabei war ihre einzige Bestimmung, seine Wünsche wahr werden zu lassen.
    Er hatte den Sinn seines Lebens verstanden. Er war nicht dazu da, Frauen glücklich zu machen oder Reichtümer anzuhäufen, sondern Kinder zu sammeln, Spielzeuge Gottes, die nur er vor den Enttäuschungen des Lebens bewahren konnte.
    Die Erinnerungen an Daniel Doll wurden immer realer, bis er glaubte, Daniels Haut zu riechen, die nach Sonne und Wärme duftete. In seiner Fantasie sah er vor sich eine staubige Landstraße in flirrender Hitze. Alfred ging mit nackten Füßen diese Straße entlang, hörte das Knirschen der kleinen Steine unter seinen Sohlen und konnte die Erregung spüren wie einen heftigen, süßen Schmerz. Der blaue Himmel hatte tausend Augen, die ihn und Daniel, der sich vor ihm im Gras rekelte, wohlwollend beobachteten.
    Die Sehnsucht nach einem warmen kleinen Körper übermannte ihn in diesem Moment derart, dass ihm schwindlig wurde. Er stand auf und hielt sich mit weit auseinander gebreiteten Armen an den Wänden des Bauwagens fest.
    An jenem Ostermontag vor drei Jahren hatte er so lange neben Daniel gesessen und den toten Körper gestreichelt, bis er kalt und blass war und seine Haut nicht mehr duftete. Zwei, drei Stunden. Genau konnte er das heute nicht mehr sagen. Selbst den Angstschweiß des Kindes konnte er irgendwann nicht mehr riechen. Daniel war nur noch eine Hülle, und sein kaltes Fleisch wurde wächsern und unelastisch.
    Alfred hatte begriffen, dass es Zeit war zu gehen. Er wollte Daniel als einen sanften Windhauch in Erinnerung behalten und nicht als eine Puppe aus Modelliermasse mit glanzlosen Augen in tiefen, dunklen Höhlen. Im Todeskampf war Daniels weit geöffneter Mund nicht in der Lage gewesen zu schreien und hatte ihn auf eine Idee gebracht, die er noch in die Tat umsetzen wollte. Im Bauwagen lag neben anderem Werkzeug auch eine Zange. Er nahm sie und brach einen der vorderen Eckzähne heraus. Es war erstaunlich leicht und ging sehr schnell. Jetzt besaß er ein kleines Souvenir, das ihn für immer an Daniel erinnern würde. An den Engel mit dem zarten Flaum auf den dünnen Armchen.
    Daniel hatte es geschafft. Er war erlöst. Und Alfred hatte ihm dabei geholfen.
    Als er danach durch das stockdunkle nächtliche Hahnenmoor zu seinem Auto lief, das er weit entfernt geparkt hatte, drehte er den Zahn zwischen seinen Fingern hin und her, bis Daniels geronnenes Blut abgerieben und schließlich verschwunden war.
    Es war vier Uhr früh und vollkommen still im Haus. Aber als er die Wohnungstür aufschloss, spürte er, dass irgendetwas anders war als sonst, und das machte ihn nervös. Er betrat den Flur, schloss leise hinter sich die Tür und vermied es, Licht zu machen. Er lauschte in die Dunkelheit. Nichts. Daraufhin zog er die Schuhe aus und schlich lautlos den Flur entlang bis zur Küche. Erst nachdem er die Küchentür hinter sich geschlossen hatte, schaltete er das Licht an.
    Er öffnete den Kühlschrank und nahm sich einen Joghurt heraus. Er wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas passiert war, und aß den Joghurt eigentlich nur, um in Ruhe zu überlegen, was als Nächstes zu tun sei. Vielleicht war Grete ja gar nicht zu Hause, vielleicht lagen auch Tom und Jim nicht in ihren Betten, möglicherweise war er allein zu Haus. Plötzlich gefiel ihm dieser
    Gedanke, und gleichzeitig spürte er, dass es ihm eigentlich egal

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