Der Kindersammler
Macht, sondern als das berauschende Gefühl der Allmacht. Er war Herr über Leben und Tod, stärker als der gewöhnliche Mensch, für den er nur Verachtung übrig hatte.
In der forensischen Wissenschaft ging man außerdem schon seit geraumer Zeit davon aus, dass Mörder ihre Opfer im Moment des Tötens nicht ansehen, wenn sie sie bereits vor der Tat persönlich kannten.
Der Mörder von Daniel, Benjamin und Florian hatte seine Taten demnach zwar sorgfältig geplant, aber seine Opfer zufällig ausgewählt. Er hatte keinerlei Beziehung zu ihnen, Verwandte und Bekannte der Kinder schieden als Tatverdächtige völlig aus.
So sehr sich die Beamten auf Sylt auch bemühten — niemand wollte etwas gesehen haben. Eine verdächtige Person — ein Mann mit einem Kind — ein Auto in den Dünen ... es gab keine verwertbare und ernst zu nehmende Zeugenaussage.
Auch in Berlin, in den Wohnhäusern in der Nähe der Laubenkolonie, war niemandem etwas aufgefallen. Niemand hatte einen Mann und ein Kind gesehen, niemand einen Wagen auf den ausgestorbenen Kleingartenwegen bemerkt.
Die Soko begann nun jeden zu überprüfen, der in den letzten fünf Jahren aus Braunschweig oder Umgebung nach Berlin und dann nach Schleswig-Holstein gezogen war. Mareike hielt diese Arbeit für relativ sinnlos, da sie nicht davon ausging, dass der Mörder— so wie sie ihn einschätzte—auf ein Einwohnermeldeamt ging und sich ordnungsgemäß anmeldete. Er stand am Rande der Gesellschaft, er scherte sich wenig um das Gesetz.
Mareike hatte Recht. Auch diese Nachforschungen brachten keinen Erfolg.
Vorbestrafte Kinderschänder und auffällig gewordene Pädophile wurden genauer unter die Lupe genommen, ebenso Exhibitionisten, Strafgefangene mit Freigang und gerade Entlassene. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass der Mörder in den Jahren zwischen den Morden wegen anderer Delikte im Gefängnis gesessen hatte.
Aber keine Überprüfung brachte eine heiße Spur. Mareike verzweifelte fast.
Gemeinsam mit Karsten Schwiers gab sie eine Pressekonferenz, in der sie einräumen musste, dass sie bei der Aufklärung der beiden Fälle noch keinen Schritt weitergekommen waren.
»Irgendwo in diesem Land sitzt unser Täter vor dem Fernseher, liest die Tageszeitung, trinkt ein Bier und amüsiert sich königlich darüber, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, wer er iste, sagte Karsten.
Mareike nickte nur. Sie hatte ähnliche Gedanken.
Hamburg, Herbst 1989
Alfred hatte es im November 1986 über einen Monat im Hahnenmoor ausgehalten und sich wieder einmal bewiesen, dass er mit weniger als nichts auskommen konnte. Kurz vor Weihnachten verspürte er plötzlich eine unbändige Sehnsucht nach Meeresrauschen, stürmischem Wind und salziger Luft und machte sich kurzentschlossen auf den Weg in Richtung Nordsee.
Auf Sylt fand er einen Job im Wellenbad in List. Die Leiterin des Bades, Frau Michaelsen, stellte ihm gönnerhaft für dreihundert Mark im Monat eine Dienstwohnung im Verwaltungstrakt zur Verfügung, ein achtzehn Quadratmeter kleines Loch mit winziger Kochnische und Zugang zum Garten. Die Toilette musste er sich mit den Verwaltungsangestellten teilen, die aber nur montags bis freitags von acht bis siebzehn Uhr da waren. Duschen konnte er nach der Arbeit im Duschraum des Wellenbades.
Es war Alfreds schlimmste Zeit. Er war für die Reinigung der Duschräume, der Umkleideräume, der Flure, der Toiletten und nach Beendigung des Badebetriebs auch für die Reinigung der Schwimmhalle zuständig. Lediglich mit dem Schwimmbecken und der Wasserqualität hatte er nichts zu tun.
Er räumte den Schulkindern hinterher, die in den Schränken ihre Brotpapiere liegen und an den Haken ihre Mützen hängen ließen. Er sah die kleinen Jungen duschen, wenn er durch die Räume ging, er beobachtete sie, wenn sie in der Halle den Kopfsprung übten oder »toter Mann« im Wasser spielten.
Er hielt es kaum aus.
Fast jede Woche hatte er Fluchtgedanken, aber dann überwog wieder die Faszination darüber, was es in der Schwimmhalle zu sehen gab. Und schließlich nahm er die Herausforderung an, der ständigen Versuchung zu widerstehen. Er übte Verzicht. Tag für Tag. Zweieinhalb Jahre lang.
Bis zum Sommer 1989. Florian Hartwig kam jede Woche einmal zum Schulschwimmen und außerdem am Donnerstagabend zum Vereinsschwimmen. Florian war für ihn der Zarteste und der Schönste von allen.
Und dann traf er ihn am Strand. Dort spielte Florian mit seinem Freund Maximilian, der einen Kopf
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