Der Kindersammler
größer und doppelt so schwer war, den ganzen Sommer über. Florian hatte Vertrauen zu Alfred, er kannte ihn aus der Schwimmhalle, und er sah ihn fast täglich am Meer.
Alfred kündigte seinen Job im Wellenbad und sein »Dienstzimmer«, um sich in Bayern um seine kranke Mutter kümmern zu können, wie er seinen Kollegen erzählte. In Wahrheit verließ er Sylt gar nicht. Er verbarg sich in den Dünen und schlief im Auto, einem verrosteten Fiat, den er sich gebraucht gekauft hatte.
Und wartete auf seine Chance.
Im September war es so weit. Maximilian hatte Mumps, und Florian spielte allein. Er freute sich richtig, Alfred zu sehen, als dieser sich am Strand zu ihm in die Sandburg setzte. Und wieder war alles, was dann geschah, für Alfred so erschreckend einfach.
Die Wohnung in Hamburg fand er unmittelbar nach dem Mord an Florian Hartwig durch eine Annonce und mietete sie sofort. Er hinterlegte eine Kaution von drei Monatsmieten, und die Sache war erledigt. Sie lag im Stadtteil St. Georg und war in Größe, Schnitt und Ausstattung fast mit seiner Neuköllner Wohnung in Berlin identisch, in der er bis zum November 1986 gewohnt hatte.
Zwei Wochen später hatte er einen Job an einer Tankstelle. Dreimal in der Woche saß er von siebzehn Uhr nachmittags bis zwei Uhr früh an der Kasse und kassierte für Benzin und Diesel, Brötchen, Cola, Bier, Blumen und Zeitschriften. Er nahm seine Arbeit ernst, konzentrierte sich und machte keine Fehler. Wenn seine Kasse nach neun Stunden abgeschlagen wurde, stimmte sie pfenniggenau, denn er passte beim Herausgeben des Wechselgeldes höllisch auf. Die Unterschriften auf den Kreditkarten kontrollierte er lange und gründlich, er rechnete immer damit, betrogen zu werden.
Außerdem hatte er ständig die Zapfsäulen im Blick, versuchte sich Fahrer und Automarken einzuprägen, um genaue Angaben machen zu können, falls jemand ohne zu bezahlen davonfahren sollte. Aber er bekam keine Gelegenheit dazu.
Da er darüber hinaus jeden Tag damit rechnete, überfallen zu werden, hatte er immer eine Gaspistole in der Tasche, von der er ohne zu zögern Gebrauch machen würde. Das wusste er. Das hatte er damals am Kanal bewiesen.
Und dann war an diesem Donnerstagmittag Dieter Draheim in seinem dunkelblauen Benz vorgefahren, was sehr selten vorkam. Er betrat den Verkaufsraum und steuerte direkt auf Alfred zu, der gerade Zigaretten ins Regal sortierte.
»Es tut mir sehr Leid, Herr Fischer«, sagte sein Chef und lächelte, was Alfred im Nachhinein widerlich und anmaßend fand. »Wir hätten Sie gern weiterbeschäftigt, aber es geht leider nicht. Die Zeiten sind schwierig, und wir müssen uns personell einschränken. Ich habe Ihnen Ihre Abrechnung gleich mitgebracht.«
Alfred stand da wie ein dummer Junge. Das hasste er am allermeisten.
»Warum?«, fragte er. »Hab ich mir was zuschulden kommen lassen?«
»Nein, nein, ganz im Gegenteil!« Draheim lächelte immer noch. »Es hat gar nichts mit Ihnen zu tun, aber wir haben einfach keinen Bedarf mehr. Von einem Mitarbeiter muss ich mich trennen, Sie sind noch nicht lange hei uns, und da ist die Wahl nun mal leider auf Sie gefallen.«
Draheim reichte ihm seinen noch ausstehenden Lohn über den Tresen. Den Donnerstag hatte er voll bezahlt, obwohl erst vier Stunden um waren.
Alfred sagte nichts mehr. Er nahm das Geld und steckte es in seine Hosentasche. Dann kam er hinter dem Tresen hervor, würdigte Draheim keines Blickes, ging durch den Laden und gab einem Gestell mit Sonnenbrillen und einem Regal mit Landkarten und Autoatlanten jeweils einen kräftigen Tritt, sodass beide krachend umfielen. Dann verließ er den Laden.
Draheim tat nichts. Er schrie nicht, er schimpfte nicht, er lief Alfred nicht hinterher. Aber er beglückwünschte sich innerlich, einen Mitarbeiter, der so reagierte, losgeworden zu sein.
Die Mietkaution hatte fast seine gesamten Ersparnisse verschlungen, er brauchte dringend Geld. Und obwohl er sich dafür verachtete, rief er Grete an.
Grete war gleich beim zweiten Klingeln am Apparat.
»Hallo Liebes«, sagte er und gab sich Mühe, seiner Stimme einen frischen Klang zu geben. »Hier ist Alfred. Wie geht es dir?«
»Gut. Danke der Nachfrage. Und nenn mich nicht >Liebes<.«
Gretes Ton war eisig.
Himmel, dachte Alfred, das kann ja heiter werden. »Wie geht es Jim? Und Tom?«
»Gut«, sagte sie. »Sonst noch was? Du meldest dich doch nicht nach sechs Jahren Sendepause, um zu erfahren, ob Jim einen Schnupfen hat?«
»Ich habe
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