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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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fühlten sich jetzt vollkommen erwachsen und wurden noch eingebildeter und unausstehlicher. Edith kaufte zwei Packungen mit Binden und überließ die beiden ansonsten ihrem Schicksal. Luise und Lene genossen es, während dieser Tage in der
    Schule nicht mitturnen zu müssen, im Übrigen war ihnen ihre Menstruation einfach nur lästig. Wie das tägliche Zähneputzen.
    Alfred war fünfeinhalb, als er eines Morgens nach seiner Schwester Lene ins Bad stolperte. Lene und Luise hatten verschlafen und hatten es furchtbar eilig, in die Schule zu kommen, sie liefen noch ohne Frühstück los. Lene hatte in der Eile vergessen, die Toilettenspülung zu betätigen, und in der Kloschüssel war Blut. Alfred starrte fassungslos in die Toilette. Offensichtlich hatte seine Schwester eine schlimme Verletzung, aber sie hatte weder geweint noch geschrien. So viel rotes Blut, und sie war einfach zur Schule gerannt. Aber sie würde sterben. Noch heute Vormittag. Vielleicht dauerte es bei ihr nur etwas länger als bei dem Fisch oder der Maus oder all den anderen Tieren, die geblutet hatten.
    Alfred ging davon aus, dass er seine Schwester nie mehr wieder sehen würde. Er saß den ganzen Vormittag still auf seinem Bett und spielte mit einer Steckdose, in die er einen Stecker steckte und wieder herauszog. Rein und raus. Stundenlang.
    Bis Lene und Luise mittags nach Hause kamen. Kichernd und schwatzend wie immer. Lene war nicht gestorben. Ihre Augen waren auch nicht glasig geworden wie bei dem Fisch. Und sie machte auch nicht den Eindruck, als ob ihr irgendetwas wehtäte.
    Alfred verstand die Welt nicht mehr.
    Alfred folgte Rolf überallhin. Ein kleiner Schatten, der sich bemühte, nicht aufzufallen, nichts falsch zu machen, der unsichtbar, aber nicht allein sein wollte. Rolf war für ihn Freund und Bruder, Mutter und Vater. Er war das Tor zu einer Welt, die für Alfred ohne Rolf am Apfelbaum zu Ende gewesen wäre. Rolf beantwortete ihm die wenigen Fragen, die er stellte. Wenn er eine Antwort bekommen hatte, hielt er wieder drei Tage den Mund, um seinem Bruder nicht auf die Nerven zu gehen.
    Spielten die großen Jungen Fußball, holte Alfred den Ball, wenn er über das Spielfeld hinausgeflogen und im Bach gelandet war, er fuhr bei Rolf auf dem Gepäckträger des Fahrrads und ging sogar mit ins Kino. Während Rolf für sich bezahlte, ging Alfred unter dem Fenster des Kassenhäuschens, für die Kassiererin unsichtbar, hindurch.
    Es waren Filme ab sechzehn, in denen böse Menschen mit Kapuzen überm Kopf durch Tapetentüren kamen und schönen Frauen die Kehle durchschnitten, in denen Mönche in unterirdischen Verliesen ihre Gefangenen quälten, in denen immer ein Gewitter der Auftakt zu einem Verbrechen war und in denen immer etwas Schreckliches passierte, wenn jemand nachts durch einen Wald lief oder unter einer Eisenbahnbrücke hindurchging. Alfred wurde fast verrückt vor Angst. Er saß bibbernd auf dem Boden hinter den Kinostühlen und wagte es nicht mehr, zur Leinwand zu sehen. Rolf leckte Brausepulver aus seiner Handfläche und schien von den gruseligen Geschehnissen unberührt.
    Alfreds Angst wuchs ins Unermessliche. Sie beherrschte sein Leben. Er traute sich abends, wenn es dunkel war, nicht mehr in den Stall und in den Keller, er schlief nur noch bei Licht und weinte bei Gewitter.
    Die Zwillinge lachten ihn aus, und Edith sagte: »Dieses Kind ist zu nichts nütze.« Alfred dachte nur noch an seinen eigenen Tod, und es machte ihn wahnsinnig, nicht zu wissen, wann es passieren und welche Qualen ihn erwarten würden.
    Rolf brachte ihm das Schwimmen bei, das Schnitzen von Borkenschiffchen, und er zeigte ihm, wo man Regenwürmer durchschneiden musste, damit beide Teile des Wurms weiterlebten.
    Zusammen mit Rolf schoss er mit einem Spielzeuggewehr, in das sie die Minen von Kugelschreibern als Geschosse steckten, auf die Tiere im Bio logiebuch. Rolf und er unterhielten sich in einer selbst erfundenen Geheimsprache, sie schickten sich geheime Nachrichten und verbrannten die Zettel hinterher im Waschbecken.
    An einem warmen Augustnachmittag sagte Rolf: »Komm, wir gehen uns einen runterholen.« Alfred dachte ans Äpfelpflücken oder an irgendetwas, das Rolf in seinem Zimmer im ersten Stock vergessen hatte, aber dann setzte sich Rolf unten am Bach, an ihrer geheimen Stelle, im Schneidersitz auf die Erde, und Alfred setzte sich ihm gegenüber. Rolf holte seinen Schwanz aus der Hose, und Alfred fand es total doof, im Sitzen zu pinkeln. Aber dann

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