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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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nicht mehr funktionieren kann, ging ein Ruck durch Alfreds Körper, und er fing vor Aufregung an zu zittern. »Die Seele«, sagte der Pfarrer, »ist alles, was den Menschen ausmacht. Sie kann fühlen und denken und lieben und hassen und ist nach dem Tod endlich frei und erlöst. Sie kann davonfliegen ins ewige Leben. Die Seelen der Verstorbenen sind unter uns, aber wir können sie nicht sehen. Nur manchmal können wir sie spüren. Die Seele wird zum Schutzengel, wie ein Mensch mit Tarnkappe, der immer bei uns ist und auf uns aufpasst. Die Seele kennt keine Hindernisse. Sie geht durch Mauern und Eisentüren, durch Berge und durch Seen. Wenn es die Seele eines guten Menschen ist, dann ist sie glücklich, und das ist der Himmel. War der Mensch böse, wird die Seele ewig unglücklich und unzufrieden sein, und das ist die Hölle.«
    »Wann fliegt die Seele davon?«, fragte Alfred, und das war der erste Satz, den er seit Rolfs Beerdigung gesprochen hatte.
    »Unmittelbar nach dem Tod«, antwortete der Pfarrer. »Wenn das Herz aufhört zu schlagen und das Gehirn aufhört zu denken, entschwindet die Seele und lässt nur noch eine menschliche Hülle zurück, die dann im Grab zerfällt. Erde zu Erde und Staub zu Staub. Unser Körper ist endlich, unsere Seele nicht.«
    Von diesem Tag an aß Alfred wieder, und er redete wieder, wenn auch nur das Nötigste. Er bestand darauf, dass auch für Rolf bei jeder Mahlzeit gedeckt wurde, und dann legte er die besten und besonderen Leckereien, die er am liebsten selbst gegessen hätte, auf Rolfs Teller — aber sie blieben immer unberührt liegen, bis die Mutter sie nach dem Essen in den Mülleimer warf.
    Seine Mutter und die Zwillinge hatten überhaupt nichts verstanden. Sie glaubten immer noch, dass Rolf unter der Erde lag. Er hatte keine Lust, es ihnen zu erklären, und wollte mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Er war eben anders.
    Hamburg, Februar 1990
    In den nächsten Tagen fiel die Temperatur in Hamburg rapide. An den Fenstern bildeten sich Eisblumen, und der Sand im Sandkasten war steinhart gefroren, als er ihrer Kollegin Marlies zum ersten Mal auffiel. Er trug weder einen Mantel noch eine Jacke, sondern nur eine schwarze Cordhose und einen grauen Rollkragenpullover, und stand bewegungslos in der Kälte.
    »Guck mal den Kerl da drüben«, sagte Marlies. »Ich dachte, der wartet auf den Bus, aber drei hat er schon durchfahren lassen.«
    Carla sagte nichts, aber behielt ihn im Blick. Er sah gut aus. Verdammt gut. Doch sein Alter war schwer zu schätzen. Sein Gesicht wirkte trotz der prägnanten Züge jung, aber sein Haar wurde bereits grau. Er sah hinüber zum Kindergarten. Unentwegt. Ihre Kollegin Rosa spielte auf dem zum Kindergarten gehörenden Spielplatz mit den Vierjährigen, die - dick eingemummelt - schaukelten oder auf den Geräten herumkletterten.
    Jetzt begann er, sich die klammen Finger zu reiben. Na also, dachte Carla, ist er also doch nicht aus Stein. Langsam kroch ein Unbehagen in ihr hoch. Sie spürte das immer, wenn es in der Speiseröhre zu kribbeln begann. Ein merkwürdiges Gefühl. Carla überlegte, ob dies ein Fall für die Polizei war. Sie war die Leiterin, sie hatte die Verantwortung, sie musste sich mit den Vorwürfen auseinander setzen, wenn sie einen Fehler machte. Ein Mann, der seit einer halben Stunde zum Kindergarten herüberstarrte ... Was war das? Normal sicher nicht. Aber auch nicht wirklich unnormal. Er hatte kein Kind angesprochen. Und gucken allein war ja nicht verboten.
    Sie hasste diese Momente, in denen sie nicht wusste, was sie tun sollte. Andere Leute dachten kurz nach und trafen dann eine Entscheidung. Manche dachten überhaupt nicht nach und trafen sofort eine Entscheidung. Sie konnte so viel nachdenken, wie sie wollte, sie blieb immer unsicher und war nie in der Lage, eine klare Entscheidung zu treffen. Im Grunde ihrer Seele wusste sie ganz genau, dass sie für eine leitende Position denkbar ungeeignet war, aber als man ihr diesen Posten angeboten hatte, hatte sie natürlich ja gesagt. Ohne zu überlegen. Schon, weil es ihr peinlich gewesen wäre abzulehnen. Und sie hatte sich mächtig geschmeichelt gefühlt. Offensichtlich hatte bisher nur noch niemand gemerkt, dass sie so große Probleme mit Entscheidungen hatte.
    Marlies trat neben sie ans Fenster. »Ist der etwa immer noch da?«
    »Komischer Typ«, murmelte Carla.
    Marlies zog eine Grimasse. »Aber du kannst nichts machen. Schließlich tut er nichts.« Marlies war ähnlich wie ihre

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