Der Kindersammler
Schwester. Eine handfeste, fröhliche
Person, die durch nichts so leicht aus der Ruhe zu bringen war. Sie reagierte stets schnell und intuitiv und irgendwie immer richtig. Als ein Kind vor einigen Wochen in einen spitzen Stock gefallen war, der dann in seinem Rücken steckte, hatte Marlies Elfi angeschrien, die den Stock aus dem Rücken des Kindes ziehen wollte, sie solle das bleiben lassen. Dann hatte sie das Kind genommen, mit ihm geredet und geredet und Witze gemacht und seine Hand gehalten und es gestreichelt und ihm unentwegt in die Augen gesehen, während die Feuerwehr unterwegs war. Das Kind merkte gar nicht, was mit ihm los war. Es weinte auch nicht, es war fasziniert von all dem, was Marlies ihm erzählte. Die Feuerwehrleute waren äußerst erleichtert, dass der Stock noch steckte, legten das Kind bäuchlings auf eine Trage und transportierten es ab. Marlies stieg mit ins Feuerwehrauto und redete immer weiter.
Carla war Markes damals äußerst dankbar gewesen. Und insgeheim konnte sie sich nicht die Frage beantworten, ob sie nicht vielleicht auch dem Kind den Stock aus dem Rücken gezogen hätte, wenn sie mit den Kindern allein gewesen wäre.
Marlies' relativ unbekümmerte Ansicht über den Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite beruhigte Carla etwas. »Ich hol meinen Mantel und rede mit ihm«, sagte sie, und Marlies nickte. Damit war der Fall für Marlies erledigt.
Aber als Carla im Wintermantel auf die Straße trat, war der Mann verschwunden.
Am nächsten Tag stand er wieder da. An derselben Stelle, ungefähr um die gleiche Zeit. Wieder ohne Mütze, ohne Schal und ohne Handschuhe, aber heute trug er wenigstens einen Mantel. Es schneite leicht. Diesmal wartete Carla nicht erst eine halbe Stunde, sondern ging sofort zu ihm.
»Entschuldigen Sie, ich arbeite im Kindergarten gegenüber.« Wie blöd, dachte sie, wofür entschuldigst du dich? Sie konnte nicht anders. Sie war es so gewohnt. Sie entschuldigte sich auch, wenn jemand sie auf der Straße anrempelte. Als ihr vor zwei Jahren ein Autofahrer die Vorfahrt genommen und ihr in die Seite gefahren war, war sie auch ausgestiegen und hatte sich sofort entschuldigt. Sie entschuldigte sich offensichtlich ständig dafür, dass sie geboren war und die Unverschämtheit besaß, am Leben in dieser Welt teilzunehmen.
»Ich weiß«, sagte er lächelnd. »Ich hab Sie schon oft gesehen.«
»Was machen Sie hier?«, fragte Carla. »Warum beobachten Sie den Kindergarten?«
»Ich beobachte nicht den Kindergarten.« Er lächelte immer noch, und seine Zähne waren ein bisschen zu gelb. »Ich beobachte Sie! Ich habe Sie auch gestern am Fenster stehen sehen. Unschlüssig kamen Sie mir vor. Als ich plötzlich das Gefühl hatte, Sie würden zu mir herüberkommen, bin ich gegangen.«
Das verschlug ihr die Sprache. Ihr Gesicht glühte. »Warum, ich meine, warum sind Sie gegangen?«
Sein Lächeln wurde breiter. »Das interessiert Sie wirklich?« Sie nickte. »So viel Interesse hatte ich gar nicht erwartet. Aber gut.
Gestern erschienen Sie mir aufgebracht. Und ich wollte nicht mit Ihnen reden, wenn Sie wütend sind.«
»Jetzt bin ich auch wütend.«
»Nein, das sind Sie nicht.« Er behauptete es einfach. Widerspruch war zwecklos. Der Punkt ging eindeutig an ihn, und er lächelte immer noch. Aber das Lächeln war merkwürdigerweise nicht arrogant. Es war irgendwie anders. Wie, wusste sie nicht.
In ihr schrie eine Stimme, sehr schön, das war's. Verabschiede dich, geh zurück in den Kindergarten und kümmere dich um die Kinder. Lass ihn doch hier stehen und sich die Beine abfrieren. Der Mann ist dir haushoch überlegen. Du kommst gegen ihn nicht an. Er ist einer von denen, die immer sagen, wo's langgeht, und man kann nichts dagegen tun.
»Wann haben Sie Feierabend?«
»Um achtzehn Uhr.« Eigentlich müsste er das ja wissen, wenn er sie beobachtete. Aber das fiel ihr erst jetzt ein.
»Sehr schön«, sagte er. »Ich hole Sie ab. Und dann lade ich Sie zum Essen ein.«
»Ist gut«, stotterte sie, und ihr Gesicht brannte, als hätte sie in Chilisoße gebadet. Dann drehte sie sich um und lief über die Straße, ohne sich umzusehen und ohne zu bemerken dass ein Wagen scharf bremsen musste, um sie nicht zu überfahren.
Bevor sie den Kindergarten betrat, sah sie sich noch einmal um. Er war nicht mehr da. Sie schämte sich. Schämte sich abgrundtief, dass sie die Einladung so ohne weiteres angenommen hatte. Als würde sie sich jedem Erstbesten an den Hals werfen. Sie
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