Der Kindersammler
Strategie auszudenken, Pjotr zu entkommen.
»Drei Mark«, sagte Pjotr. »Jede Woche. Dann Ruhe. Sonst ich dich machen kalt.«
»Die hab ich nicht«, stotterte Alfred.
»Doch, doch«, grinste Pjotr und schlug wieder zu. Diesmal in den Magen. Alfred würgte, weil er keine Luft mehr bekam, aber er übergab sich nicht. Und er weinte auch nicht.
Nun griff ihn Pjotr an der Jacke, hob ihn hoch und hängte ihn an den mittleren der vielen Kleiderhaken an die Garderobe. Alfred spürte, dass es keinen Zweck hatte zu zappeln, und bewegte sich nicht. Pjotr ging zum Schrank, in dem Lehrmaterial aufbewahrt wurde, fand eine Rolle mit Schnur und fesselte Alfreds rechte und linke Hand an weiteren Kleiderhaken, sodass er dort hing wie der Gekreuzigte und keine Chance hatte, sich zu befreien. Bevor Pjotr ging, trat er Alfred noch in die Eier. Zum ersten Mal konnte sich Alfred nicht dagegen wehren, dass ihm die Tränen in die Augen schossen.
Pjotr war hochzufrieden und verließ den Raum.
Edith schimpfte auf diese verdammte Trödelei, als Alfred nicht zum Mittagessen zu Hause war, und meinte, dass sie ihm den Marsch blasen werde, wenn er sich irgendwann mal nach Hause trauen sollte. Rolf schwieg. Er machte sich Sorgen und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Ebenso wie die Zwillinge, die sich noch nicht ganz darüber einig waren, wie ihre fünfundzwanzigste Diät aussehen sollte. An ihren kleinen Bruder verschwendeten sie keinen Gedanken.
Obwohl er eigentlich die Wiese hinter dem Haus mähen sollte, machte sich Rolf nach dem Mittagessen auf die Suche. Im Garten war er nicht, auf dem Apfelbaum nicht, nicht am Bach und nicht bei der geheimen Stelle. Er hatte sich nicht in der Scheune verkrochen und auch nicht im Stall. Er kauerte nicht hinter der Spüle und lag nicht unterm Bett, er war zum ersten Mal wirklich verschwunden.
Rolf wurde immer nervöser. Mit dem Fahrrad fuhr er zur Schule. Der Hausmeister wohnte neben der Schule in einem klein en Haus und hetzte vorsichtshalber erst einmal seine Hunde auf Rolf, bevor er sich die Geschichte anhörte und maulig die Schule aufschloss. Während Rolf das Schulgebäude durchsuchte, ging er rauchend durch die Umkleideräume der Turnhalle, inspizierte die Sachen, die liegen geblieben waren, und warf sie alle in einen großen Sack.
Rolf wusste nicht genau, wo die Klasse seines Bruders war, aber er fand sie schnell.
Alfred hing immer noch an der Garderobe. Sein Kinn war auf die Brust gesunken, und er sah aus wie tot. Rolf befreite ihn und trug ihn nach Hause.
Seiner Mutter erzählte Rolf, Alfred sei am Bach gestürzt, habe sich einen Zahn ausgeschlagen und sei ohnmächtig geworden.
»Wer's glaubt, wird selig«, sagte Edith, aber sie schimpfte wenigstens nicht.
An diesem Abend weinte sich Alfred zum ersten Mal seinen ganzen Kummer von der Seele. Er lag in Rolfs Armen und erzählte alles, was ihm bisher in der Schule passiert war.
Und Rolf wusste, was er zu tun hatte.
Pjotr kam drei Wochen nicht in die Schule. Er hatte eine schwere Gehirnerschütterung, einen gesplitterten Arm, zwei angebrochene Rippen und einen gebrochenen Unterkiefer.
Als Pjotr wiederkam, sprach er kein Wort mit Alfred, aber er ließ ihn in Ruhe. Auch die anderen Mitschüler hörten auf, ihn zu schikanieren. Sie mochten ihn nicht, aber sie ließen ihn jetzt wenigstens links liegen. Der Spaß war vorbei. Alfred hatte sich gewehrt und Grenzen gesetzt, wenn auch mithilfe von Rolf.
Die Katastrophe begann schleichend und unmerklich. Rolf hatte keinen Appetit und musste sich häufig übergeben, was aber nur Alfred mitbekam. Und Alfred traute sich nicht, seiner Mutter davon zu erzählen. Er hatte Angst, Rolf zu verraten oder ihm in den Rücken zu fallen. Rolf wurde immer dünner und schwächer. Plötzlich hatte er Schwierigkeiten, das Holz zu hacken oder die schweren Kohleeimer zu tragen. Er war hohlwangig und mager, und seine Mutter sagte dazu lediglich, das sei diese verfluchte Pubertät. Die Zwillinge kicherten und hungerten weiter, aber sie wurden ihren Babyspeck nicht los.
Rolfs Körper war übersät mit blauen Flecken, das fiel aber erst im Sommer auf, als er kurze Hosen trug. Seine Mutter meinte dazu er wäre doch nun wirklich in einem Alter, in dem er aufhören könnte, sich zu prügeln.
Erst als er wegen rasender Kopfschmerzen nicht mehr aufstehen und nicht mehr zur Schule gehen konnte, ging Edith mit ihm zum Arzt.
Alfred lag unter dem Bett und wartete auf Rolf.
Gegen Mitternacht kam Edith zurück. Allein.
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