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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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verschlossene Sarg, der in einem Loch mit meterhoher Erde zugeschüttet werden sollte? Hatte Rolf das nicht gewusst? Wie wollte er dann bei ihm sein, die Welt beobachten, Schlimmes verhindern?
    Der Sarg wurde in die Erde gelassen. Noch konnte man ihn sehen. Seine Mutter stand am Grab wie eine schwarze Hexe. Sie wollte nicht, dass Rolf bei Alfred war, sie hatte die Beerdigung organisiert, sie hatte das so angeordnet. Sie bestimmte alles, und in diesem Moment hasste er sie. Neben ihr stand ihre Schwester Rita, die extra zur
    Beerdigung aus Karlsruhe gekommen war. Er kannte seine Tante Rita nicht, er kannte nur ihre Glückwunschkarten zum Geburtstag und zu Weihnachten, aber sie hatte den gleichen strengen Zug um den Mund wie seine Mutter, und darum traute er ihr nicht.
    Edith warf drei Schaufeln Sand auf den Sarg und wandte sich ab. Dasselbe taten Rita und die Zwillinge, die während der ganzen Beerdigung keinen Ton gesagt hatten, was ungewöhnlich war. Als er an der Reihe war, Sand in die Grube zu werfen, sagte er »nein« und rannte davon.
    »Was ist das bloß für ein Kind?«, fragte Rita leise.
    Edith zuckte die Achseln. »Er ist wie sein Vater. Genauso starrsinnig.«
    Aus einiger Entfernung beobachtete Alfred, wie die Grube, nachdem noch Nachbarn, Freunde und Verwandte Erde hineingeworfen hatten, zuge schaufelt wurde.
    Rolf hatte sich geirrt. Er würde nicht bei ihm sein können. Und jetzt — das spürte er — war er wirklich allein.
    Nach dem Tod seines Bruders Rolf sprach Alfred kein Wort mehr. Mit niemandem. Weder in der Schule noch zu Hause. Er saß teilnahmslos herum, kaute an den Fingernägeln und bohrte in der Nase. Tag und Nacht versuchte er, den Tod zu begreifen. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf, dass jemand von einer Sekunde auf die andere für immer von der Erde verschwand.
    Er wollte den Tod immer öfter und immer direkter erleben, um ihm auf die Spur zu kommen. Daher fing er eine Amsel, drückte sie in eine Schüssel mit Wasser und beobachtete, wie sie langsam und qualvoll ertrank. Eine Katze hängte er an den Hinterbeinen in der Scheune auf und zog ihr bei lebendigem Leibe das Fell ab. Die Katze schrie wie ein Baby. Alfred stand lange dabei und sah fasziniert zu, wie sie nach quälend langer Zeit langsam ihr Leben aus hauchte. Eine Maus sperrte er in eine Plastikdose, bestaunte die unermüdlichen, sinnlosen Ausbruchversuche und wartete tagelang, bis sie endlich verhungert und verdurstet war. Und schließlich erdrosselte er ein Kaninchen, dem die Augen im Todeskampf aus den Höhlen quollen. Es sieht nicht mich, dachte Alfred, es sieht den Tod.
    Und noch eine Erfahrung machte er: Es lag in seiner Macht, ob der Tod kam oder nicht. Er war der Boss. Er hatte die Kontrolle. Das war der Satz, den Rolf ihm auf den Weg gegeben hatte: »Du darfst nie die Kontrolle verlieren.«
    Nur Rolf war einfach so gestorben. Und niemand hatte die Macht gehabt, ihn am Leben zu erhalten.
    Alfred trank literweise Milch, aber weigerte sich zu essen. Seiner Mutter war er unheimlich. Sie kaufte ihm ein rotes Feuerwehrauto, aber er würdigte es keines Blickes. Nahm es noch nicht mal in die Hand. Wenn seine Mutter ihn berührte, schüttelte er sie ab, als habe sie die Pest an sich, und setzte sich ein paar Meter weiter wieder hin. Bewegungslos und in respektablem Abstand. Mit einem Blick, der nichts sah, nirgendwo endete, sich nur in der Weite verlor. Er wollte am Leben nicht mehr teilnehmen. -
    Nach zehn Tagen kapitulierte Edith. Sie kam gegen diese Sturheit nicht an und ging zum Pfarrer. Bat ihn, mit dem Jungen zu reden. Ober Rolf. über den Tod und über das Leben. Vielleicht hörte Alfred dem Pfarrer ja eher zu als ihr. Sie hatte ohnehin wenig Talent, die richtigen Worte zu finden.
    Der Pfarrer kam und setzte sich zu Alfred ins Zimmer. Er stellte ihm keine Fragen und erwartete keine Antworten. Er verlangte von Alfred auch keine Reaktion und sah ihn gar nicht an, während er dem kleinen Jungen alles erzählte, was er über den Tod und das ewige Leben wusste, was er in Büchern gelesen und schon unzählige Male von der Kanzel verkündet hatte. Nie hatte er wirklich das Gefühl gehabt, dass seine Worte auf fruchtbaren Boden fielen. Aber Alfred hing an seinen Lippen, das sah er aus dem Augenwinkel, Alfred saugte jedes Wort förmlich in sich auf. Und für den Pfarrer hatte sein Beruf zum ersten Mal einen Sinn.
    Als er von der Seele sprach, die sich vom lästigen kranken oder tödlich verletzten Körper löst, der einfach

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