Der Kindersammler
ihr dabei zusah, erstickte sie fast vor Verlegenheit und war sich bewusst, dass ihr Gesicht flammend rot war. Er erzählte, dass er Vegetarier sei. Nicht, dass er nicht gerne Fleisch äße, aber er wolle nicht am Tod eines einzigen Tieres die Mitschuld haben. Er bemühe sich, in jeder Situation des Lebens, auch hier in der Stadt, jede Kreatur und sei sie noch so klein und unscheinbar, ganz gleich, ob es sich um Fliegen, Mücken oder Ameisen handle, zu achten und die Existenz der Lebewesen zu schützen.
Alles, was er sagte, machte es ihr nicht leichter, die Poularde zu essen, die nach dem Carpaccio serviert wurde und wunderbar schmeckte. Er wünschte ihr guten Appetit, aber sie schämte sich immer noch und stocherte in der Poularde herum, als äße sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit Messer und Gabel. Jede ihrer Bewegungen kam ihr ungelenk und abstrus vor, und je mehr sie sich selbst beobachtete und darüber nachdachte, umso unsicherer wurde sie.
Alfred aß langsam und bedächtig. So bewusst, als entschuldige er sich im Stillen bei jeder Nudel, die er in den Mund steckte, dass er sie jetzt gleich vernichten würde. An seinem Rotwein nippte er nur, sie trank dreimal so schnell wie er, was sie zwar merkte, aber nicht ändern konnte. Wenn sie trank, fühlte sie sich sicherer.
Und nach Lachscarpaccio, Poularde und einem Tiramisu zum Nachtisch, das Alfred allerdings für sich selbst auch bestellte, lag sie jetzt auf dem Bett und aß noch ein Stück Schokolade nach dem andern. Die Tafel war bereits zu zwei Dritteln verschwunden.
Es war ein anstrengender Abend gewesen. Aber immerhin hatte sie erfahren, dass er Manager war. Manager einer großen Firma. A!s sie nachfragte, lenkte er ab und meinte, er wolle über alles reden, nur nicht über seine Arbeit. Damit hätte er tagsüber schon genug um die Ohren, und er verschwende schon viel zu viele Gedanken an den Betrieb. Ein Manager, der sich das billigste und einfachste Gericht auf der Karte bestellt hatte. Sie fand das faszinierend, weil es so ungewöhnlich war.
Und ein Manager, der an einer Bushaltestelle stand und eine Kindergärtnerin beobachtete. Wahnsinn. Der Vegetarier war, wenig aß, wenig trank, Kälte nicht spürte und in Pullover und Jackett abends ins Restaurant ging, als wäre er Gast in einer Skihütte. Ihr Herz jubilierte. Das Leben war großartig Es hatte Überraschungen parat, die man sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte. Sie hatte einen Manager kennen gelernt! Wer weiß, vielleicht würde mit diesem Mann ihr Leben eine ganz andere Richtung nehmen.
Er hatte alles über sie wissen wollen. Über ihre Arbeit, über ihre Eltern, ihre Schwester, aber am meisten interessierten ihn ihre 'träume. Was erwartete sie noch vom Leben, was wünschte sie sich? »Kinder«, sagte Carla. »Zwei oder drei. Und ein Haus mit Garten und vielen Tieren.« Mit Geschöpfen, die sie pflegen und für die sie da sein könnte. Das würde ihrem Leben einen Sinn geben. Mehr, als sich um fremde Kinder zu kümmern.
Carla sah das Unverständnis in seinen Augen. Sie spürte, dass er fragen wollte, warum sie in ihrem Älter noch keine Kinder hatte, aber er tat es nicht. Schließlich kannten sie sich erst wenige Stunden. Sie war fünfunddreißig, und sie sah aus wie fünfunddreißig. Keinen Tag jünger und keinen älter. Allmählich wurde es eng. Die biologische Uhr tickte.
Sie lächelte und half ihm auf die Sprünge. »Fragen Sie mich jetzt nicht, warum ich noch keine Kinder habe! Ich kann nur sagen, ich weiß es selbst nicht. Es kam irgendwie nie dazu. Mal war die Zeit ungünstig, weil ich in der Ausbildung war oder in meinem Beruf weiterkommen wollte, mal war der falsche Mann an meiner Seite, dann fehlte das Geld ... es hat irgendwie nie gepasst, und jetzt ist es bald zu spät.«
»Aber für ein Haus mit vielen Tieren ist es nie zu spät«, sagte
»In der Stadt geht das nicht. Und schon gar nicht, wenn man berufstätig und jeden Tag neun bis zehn Stunden nicht zu Hause 0t. Tiere darf man nicht zu lange sich selbst überlassen. Sie brauchen Liebe und Zeit. Ganz viel Zeit. Sonst werden sie bösartig. Da sind sie wie Menschen. Wer zu lange allein und zu einsam ist, wird auch bösartig.«
Alfred runzelte die Stirn. »Eine gewagte These.«
»Vielleicht. Aber ich bin überzeugt davon.« Carla nahm einen tiefen Schluck Rotwein. Alfred lächelte, und sie hatte das Gefühl, dass er sie verstand. Dass er ähnlich fühlte. Schließlich war er auch so ein Tier- und
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