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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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wahrscheinlich auch Kinderfreund.
    Jetzt erst, hier auf der Couch, fiel ihr ein, dass sie ganz vergessen hatte, ihn zu fragen, ob er eine Frau hatte. Oder Kinder. Oder ob er vielleicht geschieden war. Sie nahm es an. Ein verheirateter Mann stand wohl kaum vor einem Kindergarten und wartete auf eine Kindergärtnerin. Es gab sicher attraktivere Frauen. Jüngere Frauen. Und wenn er eine Geliebte suchte, gab es wesentlich lohnendere Jagdreviere.
    Was wollte er von ihr? Diese Frage konnte sie sich nicht beantworten. Sie war den ganzen Abend nicht dahintergekommen. Als sie fertig gegessen hatten, zahlte er sofort. Dann brachte er sie noch nach Hause. Sie gingen zu Fuß. Er hatte sie auch bereits zu Fuß vom Kindergarten abgeholt. »Ich vermeide es, Auto zu fahren«, hatte er gesagt. »Nach Möglichkeit. Zufußgehen ist gesünder. Und ich verstehe die Leute nicht, die sich wegen ein oder zwei Kilometern hinters Steuer setzen.«
    Es war weit bis zu ihrer Wohnung. Sie gingen fast eine Dreiviertelstunde, und sie hatte große Mühe, normal zu gehen, denn sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie sich in ihren Pumps mit dem halbhohen Absatz, die sie nur sehr selten trug, Blasen gelaufen hatte. Die Blase an ihrer rechten Ferse war bereits aufgegangen, die dünne Haut hatte sich durch die ständige Reibung abgerollt, bei jedem Schritt scheuerte die offene Wunde am harten Leder ihres noch relativ neuen Schuhs. Auf den letzten fünfhundert Metern bis zu ihrer Wohnung konnte sie nicht mehr anders und humpelte stark. Alfred sah es, aber er sagte nichts dazu. Vielleicht wollte er sie nicht in Verlegenheit bringen.
    Als sie vor ihrer Haustür angekommen waren, blieb er stehen und sah sie an. »Danke«, sagte er. »Danke, dass Sie meine Einladung angenommen haben. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Aber ich wüsste gerne, warum Sie es getan haben.«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Carla. »Ich habe gar nicht darüber nachgedacht.«
    »Das ist gut«, sagte er. »Das gefällt mir.« Er lächelte, sagte: »Gute Nacht«, und verschwand in der Dunkelheit.
    Carla war irritiert. Konnte überhaupt nichts damit anfangen. Und war schon wieder verunsichert, was sie einen Moment lang wütend machte.
    Ich habe einen Manager kennen gelernt, dachte sie, als sie sich das letzte Stück Schokolade in den Mund steckte und langsam auf der Zunge zergehen ließ. Und ich würde alles darum geben, ihn wiederzusehen.
    Sie hob die Katze von ihrem Bauch, stand auf, zog einen Stuhl vor ihr Bücherregal, stieg darauf und holte das Telefonbuch aus dem obersten Fach.
    Von den vier schweren Büchern war es das unterste. Natürlich. So war es immer. Sie suchte seinen Namen. Dreizehn »Alfred Fischer« standen im Telefonbuch. Davon war einer
    Elektriker und einer Anwalt, alle anderen hatten keine Berufsbezeichnung. Außerdem gab es elf »A. Fischer« und dreiundvierzig »Fischer«, die ohne Vornamen eingetragen waren. Also fünfundsechzig Möglichkeiten. Jeder von denen konnte er sein. So kam sie nicht weiter. Tatsache war, dass sie von ihm keine Adresse und keine Telefonnummer hatte, sie wusste auch nicht, in welcher Firma er arbeitete. Großartig. Sie war darauf angewiesen, dass er an der Bushaltestelle auftauchte. Und wieder war es sein Part. Er hatte die Fäden in der Hand. Er würde entscheiden, ob es eine Fortsetzung gab oder nicht.
    Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte inständig, ihn wiederzusehen. Nie wieder würde sie im Ringelpullover zur Arbeit gehen. Jetzt musste sie täglich auf alles gefasst sein.
    Hätte Carla an diesem Abend schon geahnt, wie weit Alfred in ihr Leben eingreifen würde, sie hätte den ungewöhnlichen Mann an der Bushaltestelle wahrscheinlich nie mehr eines Blickes gewürdigt.
    28
    Er stand nie wieder vor dem Kindergarten. Marlies bekam ihn nicht mehr zu Gesicht, was sie sehr bedauerte. Aber er rief Carla am nächsten Abend zu Hause an und duzte sie bereits am Telefon. »Hier ist Alfred«, sagte er, und es Hang so merkwürdig hölzern, als würde er seinen Namen fast nie oder aber nur sehr selten aussprechen. »Hast du heute Abend Zeit? Ich würde dir gern etwas zeigen.«
    »Ja, natürlich hab ich Zeit«, sagte Carla, und ihr Herz klopfte bis zum Hals.
    »Zieh dir warme Sachen und bequeme Schuhe an. Ich bin um halb acht vor deiner Tür.«
    Bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, hatte er schon aufgelegt.
    Sie hatte eigentlich vorgehabt, ins Kino zu gehen, aber das ging jetzt nicht mehr. Halb acht. Das waren noch zwei

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