Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
Vom Netzwerk:
verletzbar.
    Manchmal rührten sie die beim Ausziehen auf links gekrempelten Hosen und Pullover auf der Erde, seine dreckverkrusteten steifen Socken, die Turnschuhe, die irgendwie schneller wuchsen als er. Seine zerschrammten Schienbeine und schwarzen Füße, er kämpfte sich ins Leben, und das fing zuerst bei Bäumen, Büschen und Bächen an. In seinem Zimmer hortete er Steine und Stöcke gleichberechtigt mit Furcht einflößenden Fantasiefiguren und Matchboxautos, sein Hamster Hobbit durfte frei in diesem Chaos herumrennen und war manchmal tagelang verschwunden. Anne wunderte sich ständig, wie das kleine Vieh das überlebte.
    Harald kam den Weg herauf. Anne hörte auf zu atmen. Er war allein. Hemd und Hose schlotterten triefend an seinem Körper, sein Schritt war schleppend und hatte jegliche Dynamik verloren. Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen. Blitz und Donner zuckten und krachten beinah gleichzeitig. Die letzten Meter rannte er zum Haus. Anne öffnete ihm die Tür. Beide sagten kein Wort, waren plötzlich die einzigen Menschen auf der Welt. So unendlich allein und verlassen, dass sie sich schämten, als sie sich ansahen.
    »Zieh das nasse Zeug aus«, sagte Anne, »und zieh dir trockene Sachen an.« Er reagierte nicht.
    »Ich bin um den ganzen verfluchten See gerannt«, sagte er vollkommen außer Atem. »Nichts. Niemand. Mir fällt einfach nichts mehr ein, wo er noch sein könnte.« Er schlug derartig heftig mit der Faust auf den Tisch, dass Anne dachte, die Hand wäre gebrochen. Sie konnte ihm deutlich ansehen, wie weh es tat.
    »Was machen wir denn jetzt?« Anne flüsterte, weil sie diesen Satz unbedingt sagen musste, obwohl sie wusste, dass es darauf keine Antwort gab. Wahrscheinlich machte es ihn wütend.
    »Ich weiß es nicht«, schrie er. »Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht, wenn ich es wüsste, würde ich es machen, aber ich weiß es nicht!« Er war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und dadurch spürte sie, wie die Kraft bei ihr zurückkam. Es war noch nichts verloren. Es war noch alles möglich. Übermorgen war Ostern. Sie würden das Ei verstecken und im Garten herumtoben, Erdbeerkuchen essen und Boccia spielen. An einem sonnigen warmen Ostersonntag in der Toscana. Vater, Mutter, Kind. Alles andere wäre absurd. Unmöglich. So etwas gab es im Film, aber nicht in der Realität. Nicht hier in dieser lieblichen Landschaft. Und vor allem nicht bei ihnen. Wir müssen auf dem Teppich bleiben, dachte sie streng, jetzt bloß nicht hysterisch werden.
    Das alles sagte sie ihm, und Harald starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Er zog sich nicht um, er holte sich keine Jacke, er nahm nur die Taschenlampe und ging wieder hinaus. Kletterte hinter dem Haus den Berg hoch, rannte in alle Richtungen im Kampf gegen die Zeit, gegen das Dunkelwerden.
    Als man die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnte, kam er zurück. Nur um den Autoschlüssel zu holen. Er setzte sich in den Wagen und fuhr die Gegend ab. Ins Dorf und überallhin. Ziellos, planlos. Folgte nur seiner inneren Eingebung. Er fragte die Leute, ob sie einen kleinen Jungen gesehen hätten, aber natürlich hatte ihn niemand gesehen. Und schließlich ging er zu den Carabinieri. Sie nahmen die Vermisstenanzeige umständlich auf, füllten meh rere Formulare aus, jeweils mit vier Durchschlägen. Dann baten sie Harald, der kurz vor der Explosion stand, die Ruhe zu bewahren.
    Jetzt in der Nacht könne man nichts tun, aber im Morgengrauen würden sie anfangen zu suchen.
    Das Gewitter hatte längst aufgehört, es regnete jetzt anhaltend, aber nicht stark. Harald wusste, dass er keine Chance mehr hatte, ihn in dieser Nacht noch zu finden, und kam nach Hause zurück.
    Felix war irgendwo da draußen und hoffte und wartete auf seinen Vater, gab die Hoffnung nicht auf, dass er kommen würde, schrie und weinte nach ihm. Bettelte und flehte, aber seine Eltern kamen nicht. Da kam niemand. Harald sagte es nicht, aber Anne wusste, dass er das Gefühl hatte, versagt zu haben.
    Endlich zog er die nassen Sachen aus und trockene an. Anne beobachtete ihn schweigend, hatte keine Idee mehr, wollte ihn in Ruhe lassen. Er ging zum Regal, nahm die Whiskyflasche, goss sich ein Wasserglas halb voll und nahm einen tiefen Schluck. Dann setzte er sich an den Küchentisch, mit dem Rücken zu ihr, legte den Kopf auf den Unterarm und weinte.
    Das war das Schlimmste. Weil es so endgültig war.
    Anne und Harald blieben die ganze Nacht in der Küche sitzen und

Weitere Kostenlose Bücher