Der Kindersammler
getupft.
Allora ließ sich über eine leicht abfallende Wiese rollen, sie genoss die feuchte Kühle des Grases, die Ameisen, die ihr über die Beine krabbelten und über die kleinen Härchen Wetterten, als lägen ihnen Baumstämme im Weg. Sie hypnotisierte die Wolken und summte das Lied von den Partisanen, das die Nonna immer gesummt hatte. Es war ein vollkommen friedlicher Moment, als der weiße Maremma-Hund des Schäfers mit fliegenden Lefzen und gebleckten Zähnen auf sie zuschoss, sie ansprang und sich in ihrem Arm verbiss.
Allora stieß einen derartig gellenden Schrei aus, dass der Hund sofort losließ und davonrannte, als wäre er dem Teufel begegnet.
Bernardo fand sie, kreidebleich an einen Olivenbaum gelehnt und ihre Wunde leckend. Das war zu viel für den bisher so standhaften Bürgermeister von San Vincenti, der jede Nacht von Ällora träumte, die nur wenige Zimmer weiter in seinem Haus schlief, und der jede Nacht mit sich kämpfte, ob er es wagen konnte, zu ihr unter die Decke zu kriechen. Er wagte es nicht. Nicht ein einziges Mal, obwohl seine Freunde — der Geometer, der Geologe, der Ar chitekt und der Baustofthändler — fest davon ausgingen. Aber er schlich viele Male ins Bad, während Fiamma mit offenem Mund schnarchte, und beobachtete sein Gesicht im Spiegel, während er es selbst tat, und stellte sich vor, Allora sähe ihm zu.
Jetzt überlegte er nicht mehr, sondern drückte seine Lippen auf ihren blutverschmierten Mund und küsste sie so lange und eindringlich, dass Allora ihre Wunde vergaß und zu begreifen versuchte, was mit ihr geschah. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Die Zunge in ihrem Mund empfand sie als viel wohlschmeckender und anregender als das Ablecken von Gitterstäben, Tellern, Bestecken oder ihrem eigenen Spiegelbild, dem sie auf den Geschmack kom men wollte. Und so grunzte sie vor Vergnügen wie die Nonna gegrunzt hatte, und Bernardo wurde schier verrückt vor Verlangen. Und ihre Beine spreizten sich ganz von selbst, sie konnte und wollte gar nichts dagegen tun, ja sie bemerkte es nicht einmal, und alles, was der Bürgermeister dann tat, war so großartig, ein so unbeschreibliches Gefühl, dabei hatte sie geglaubt, es könne nichts Besseres mehr geben als eine kreisende Zunge in ihrem Mund. Ihr ganzer Körper kribbelte und wurde immer heißer, als würde ihr die Augustsonne in jeden einzelnen Knochen fahren, und der Himmel fiel auf sie herab, ihr schwindelte, und sie wusste nicht mehr, wo sie war, sie glaubte zu fliegen und erahnte nur undeutlich, dass das, was sie fühlte, sie selbst war, die Allora, die sie seit so vielen Jahren kannte und doch nicht gekannt hatte. So war es also zu sterben, dachte sie, so schön, und sie wünschte sich, nie mehr aufzuwachen aus diesem Rausch. Aber dann sah sie den Bürger meister, und er tat ihr Leid. Sein Gesicht war hochrot, er schwitzte und stöhnte, sie glaubte, er wäre im Todeskampf. Sie wollte ihn fragen, ihm helfen, aber da kam eine Welle über sie, die sie hochhob und davontrug auf einer Welle der Lust, sodass sie erneut schrie, als hätte sich diesmal Bernardo in ihr Fleisch verbissen.
Bernardo lag ganz still über ihr und atmete kaum. Sie weinte und bettelte, er möge nicht sterben. Bernardo setzte sich auf, zog ein riesiges und schon unzählige Male benutztes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit über die verschwitzte Stirn.
»Allora«, sagte sie.
Bernardo lächelte und stand auf. »Komm mit«, sagte er, »wir müssen deinen Arm verbinden, und dann zeig ich dir was.«
Er schenkte ihr seine alte Vespa, die seit Jahren im Holzschuppen stand. Er brauchte sie nicht mehr, aber sie fuhr noch. Allora freute sich so sehr, dass sie ihn sofort auf den Mund küsste, aber Bernardo stieß sie weg, sah sich nervös um und verhielt sich so ablehnend, dass Allora gar nichts mehr verstand.
Aber Allora lernte schnell. Das, was sie so gerne tat, durfte man niemandem erzählen, man durfte nicht gesehen werden, es war geheim und verboten. Und man musste immer zu zweit sein und nicht zu dritt oder viert. Als sie nämlich dem Geometer auf den Schoß gesprungen war, ihn auf den Mund küsste und die Zunge in den Hals steckte, weil sie sich freute, dass er ihr ein zweites Stück Kuchen auf den Teller gelegt und sie angelächelt hatte, reagierte seine Frau mit einem derartigen Wutausbruch, dass Allora in den Garten flüchtete, sich zwischen die Tomatenpflanzen kauerte, deren beißender Saft auf ihrer Haut brannte, und zu
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