Der Kirschbluetenmord
davontreiben.
Sano war so rasch in den Schlaf gesunken, daß er die Veränderung kaum bemerkt hatte. Nun aber erwachte er schlagartig, als er das leise Schluchzen hörte. Er setzte sich auf und warf die Decken zur Seite. Dann blickte er in die Ecke des Zimmers, in der Kerzenflammen eine kleine Grotte aus Licht bildeten.
In einen weißen Umhang gehüllt, kniete Wisterie vor einem niedrigen Tisch. Zwischen die brennenden Kerzen, das Obst und die Blumen hatte sie mehrere kleine Gegenstände auf den Tisch gelegt. Immer wieder neigte sie den Kopf; ihre Lippen bewegten sich, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Sano erhob sich vom Futon, ging zu Wisterie hinüber und kniete sich neben ihr nieder. Er sah ein Stirnband aus Baumwolle auf dem Tisch liegen, daneben eine Tabakspfeife und einen Satz Spielkarten. Die Karten waren keine passende Zier für einen buddhistischen Altar, denn auf dem Blatt jeder Karte war ein Miniatur -shunga abgebildet. Plötzlich wußte Sano Bescheid. Noriyoshi hatte diese Karten gemalt; das Stirnband und die Pfeife gehörten ihm. Wisterie, in ihrer weißen Trauerkleidung, betete für Noriyoshis Geist.
Bewegt und beschämt zugleich, suchte Sano nach Worten. Er war es nicht gewöhnt, einen Menschen so offen trauern zu sehen; die meisten Leute hielten ihre Gefühle tief im Innern verborgen, sogar auf Totenfeiern. Vielleicht wäre es das Beste, zu gehen und Wisterie ihrer stillen Trauer und den Gebeten zu überlassen. Doch Sano konnte sie nicht einfach verlassen, als wäre nichts zwischen ihnen gewesen. Zögernd legte er Wisterie die Hand auf die Schulter.
»Gehe in Frieden in dein neues Heim, Noriyoshi«, flüsterte sie. »Eines Tages sehen wir uns wieder.« Sie wandte sich zu Sano um. Ihre großen runden Augen waren Brunnen voller Leid; Mund und Nase waren vom Weinen gerötet und verquollen.
Sano spürte, wie Wisteries Schmerz in seinem Innern widerhallte. »Tut mir leid«, sagte er unbeholfen. Er wollte sie in die Arme schließen, doch sie zuckte vor seiner Berührung zurück.
»Mein einziger wahrer Freund ist tot!« rief sie, und plötzlicher Zorn blitzte durch den Schleier aus Tränen. »Und wie habe ich es ihm gedankt? Indem ich mit einem yoriki geschlafen habe!« Ein ersticktes Schluchzen brach tief aus ihrer Kehle hervor. »Mit dir! Einem Mann, den der Schmerz anderer Menschen kalt läßt! Du bist nur gekommen, um mir Fragen zu stellen. Du hast mir den Besorgten und Betroffenen nur vorgespielt. Für Menschen von niederem Stand gibt es keine Gerechtigkeit, weil sie nicht bestechen oder schöntun oder sonstwie dafür sorgen können, daß unsere hohen Herrn ihnen Recht gewähren. Du wirst zurück auf deine Schreibstube gehen und eine nette, kleine offizielle Version darüber schreiben, was mit Noriyoshi geschehen ist. Shinjū. Schlicht und einfach. Und vor allem bequem! Bloß keine Nachforschungen. Es könnte ja Arbeit für dich und deine Vorgesetzten bedeuten oder Ärger mit der Familie des Mädchens, wer sie auch gewesen sein mag. Du wirst Noriyoshis Schande mit deinem Schweigen und deiner Unterschrift besiegeln, während sein Mörder frei herumläuft!«
Wenngleich Sano erkannte, daß Trauer und Selbstverachtung Wisteries Angriff auf ihn ausgelöst hatten, schmerzten ihn ihre Worte. Denn er wußte, wie nahe er daran gewesen war – und noch immer war –, genau das zu tun, was sie soeben gesagt hatte.
»Du irrst«, sagte er. »Noriyoshi ist mir nicht gleichgültig. Und ich habe nicht die Absicht, seinen Mörder ungeschoren davonkommen zu lassen.« Noch während Sano diese Worte sagte, ließ der Gedanke an Magistrat Ogyū, Katsuragawa Shundai und seinen Vater ihn innerlich aufschreien.
Wisterie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. »Laß mich allein«, flüsterte sie.
Sano zog sich rasch an und verließ das Zimmer. Im Salon des Palasts des Himmlischen Gartens war die Feier noch in vollem Gange; draußen pulsierte die nächtliche Nakano-chō noch immer von Leben, Lachen und Fröhlichkeit, und trotz der späten Stunde waren die Besuchermassen nicht kleiner geworden. Doch das Haupttor von Yoshiwara war bereits geschlossen. Auf dem Weg zu den öffentlichen Ställen, wo Sano sein Pferd untergestellt hatte, blickte er mit Bestürzung zum Nachthimmel. Er war viel länger bei Wisterie geblieben, als er vorgehabt hatte. Nun war er, wie jeder andere in Yoshiwara, die Nacht über eingeschlossen.
Sano begab sich in den ärmlicheren Teil des Vergnügungsviertels und betrat eine
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