Der Klang Deiner Gedanken
Novak mit all seinem Einfallsreichtum, seinem starken Glauben und seinem Humor würde schon einen Weg finden, sich damit zu arrangieren. Was er im Augenblick aber durchmachte, vermochte sie sich nicht vorzustellen.
Cressie machte es sich zwischen den roten und orangefarbenen Hähnen gemütlich und legte ihren Arm auf das violette Zierdeckchen. „Also, Liebes, wir sollten jetzt ein paar Pläne für dich schmieden. Ich bin mir sicher, dass jemand bei uns ein Zimmer zu vermieten hat. Wir werden gleich morgen in der Kirche bekannt geben, dass du eins brauchst.“
Allie legte die Hände auf dem Schoß ineinander. Sie trug noch immer ihre Rotkreuzuniform. Zeit zum Umziehen war keine geblieben. „Ich kann nicht in Riverside bleiben.“
Cressie runzelte die Stirn. „Aber warum denn nicht?“
„Ich muss von vorne anfangen. Irgendwo, wo mich nichts an meine Familie erinnert. Groveside und all meine Freunde dort werde ich vermissen, vor allem dich und Daisy, aber ich muss von hier fort.“
„Hmm. Hm. Ein bisschen überstürzt das Ganze, aber du hast womöglich recht. Und wohin willst du?“
„Erst mal nach Antioch. Wegen Walt werde ich dort nicht lange bleiben können, aber ich will Betty besuchen und mir in San Francisco Arbeit suchen. Meine Freundin Louise hat mir geschrieben, dass eine ihrer Mitbewohnerinnen ausgezogen ist.“
„Du kannst bei mir bleiben, so lange du willst.“
Allie schüttelte den Kopf. „Am Dienstag fahre ich los. Morgen werde ich mich in der Kirche verabschieden und die Stelle als Organistin kündigen. Am Montag sage ich dann meine neue Arbeitsstelle ab und fahre zum March Field, um Cracker von Walt zu erzählen.“
„Das hört sich nach einem guten Plan an. Jetzt haut’s mich aber um. Und ich dachte, du wärst völlig durcheinander!“
„Oh, das bin ich auch.“ Allie hob zum Beweis ihre zittrige Hand und lächelte schwach. „Ich bin völlig durcheinander und habe riesige Angst. Aber Gott wird mich schon nicht allein lassen.“
„Niemals, Liebes. Niemals.“
* * *
Union Station
Dienstag, 29. Juni 1943
„Miss, es gibt keine Tickets mehr. Die Züge sind voll. Die Zivilbevölkerung soll auch überhaupt nicht reisen.“ Der Mann am Fahrkartenschalter sah Allie unfreundlich an und zeigte auf ein Plakat, auf dem stand: „Fahre nur mit dem Zug, wenn es unerlässlich ist.“
„Es ist unerlässlich.“
Der Mann winkte ab. „Kommen Sie morgen wieder. Und etwas früher.“
Allie trat beiseite. Sie konnte nicht morgen wiederkommen. Ihr Geld reichte nicht, um wieder nach Riverside zurückzufahren oder sich in Los Angeles ein Hotel zu nehmen. Sie hatte zwar das Konto leergeräumt, auf dem sie ihr Organistengehalt gespart hatte, aber sie brauchte jeden Cent für die Fahrt nach Norden, für die Jobsuche in Francisco und eine Kaution, falls sie doch nicht bei Louise wohnen konnte.
Was sollte sie die ganze Nacht tun? Sie sah sich in der höhlenartigen Bahnhofshalle um. Ein Matrose rempelte sie an und entschuldigte sich, ohne sie anzusehen.
Sie war allein. Mutterseelenallein. Was machte sie hier? Sie sollte heimfahren, Baxter heiraten und alle zufriedenstellen.
Allie seufzte und lief durch die Halle. Sollte sie wirklich Gottes Willen missachten, sich den Rest ihres Lebens grämen und alles vergessen, was sie im letzten Jahr gelernt hatte? Niemals.
Auf den Tag genau vor einem Jahr war sie auf diesem Bahnhof angekommen. Walts Kuss hatte noch auf ihrer Wange gekribbelt und sie hatte schnell die andere hingehalten, als Baxter ihr ein Begrüßungsküsschen hatte geben wollen.
Sie trug genau dasselbe rote Reisekostüm wie damals, aber alles andere hatte sich verändert. Vor einem Jahr hätte sie nie und nimmer in Erwägung gezogen, im Bahnhof zu nächtigen, aber genau das würde sie heute Nacht tun. Ihr Gepäck war schon aufgegeben und sie hatte das neue Buch von Lloyd Douglas, Das Gewand , zum Lesen dabei. Außerdem noch Papier und Stift, um Walt zu schreiben. Sie wollte nach wie vor alles lieber persönlich sagen, aber ein Brief würde ihr helfen, ihre Gedanken zu ordnen.
Allie verließ den Bahnhof und lief ziellos herum. Irgendwann war sie auf der Olvera Street und tauchte in den mexikanischen Teil von Los Angeles ein. An einem Verkaufsstand wurden Sombreros für Männer auf Heimaturlaub und kunstvoll verzierte Ledersachen verkauft.
Ihr Brief und das, was sie Walt sagen wollte, musste gut durchdacht sein. Zuerst würde sie ihm für sein Opfer danken und versuchen, ihm für die
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