Der Klang Deiner Gedanken
...?
Nein. Das durfte er nicht denken.
Aber was, wenn doch?
Walt sah sich im Krankenzimmer um: die doppelreihig gestellten Betten, die beigen Wände, die Männer, mit denen er sich nicht unterhalten wollte. Die einzig logische Erklärung wäre, dass die Hochzeit entweder verschoben oder abgesagt worden war. Aber dann hätte sie doch etwas gesagt.
Ein Stöhnen entfuhr ihm. Wieso hätte sie etwas sagen sollen, wenn seine miese Laune und seine achtlosen Worte sie geradezu in die Flucht geschlagen hatten?
„Der Brief!“ Er stürmte los. „ Ich muss Dir so vieles sagen? Einiges wird Dich überraschen?“
Walt rannte den Gang hinunter. Wieso zum Henker hatte er den Brief nicht zu Ende gelesen? Er schlitterte zum Mülleimer, fiel auf die Knie und schüttete den Inhalt vor sich aus. „Bitte, lieber Gott, lass ihn noch da sein.“
„Novak ist übergeschnappt. Hab ich doch schon die ganze Zeit gesagt“, meinte jemand im Vorbeigehen.
„Dem ist das Blei zu Kopf gestiegen.“
Walt ignorierte die Kommentare und durchwühlte den Müll. Nichts. Er seufzte enttäuscht und lehnte sich an die Wand. Was hatte er erwartet? Der Müll wurde hier jeden Tag geleert.
Missmutig sammelte er alles wieder ein. Was hatte Allie nur geschrieben? Er achtete nicht auf die schrägen Blicke und das Geflüster und setzte sich auf sein Bett, wo er den Briefumschlag der Einladung genau unter die Lupe nahm. Die Schrift war eindeutig weiblich und gehörte wahrscheinlich Mrs Miller. Allies Schrift war das jedenfalls nicht. Die Vorderseite war mit lauter Nachsendungseinträgen übersät, aber der Poststempel vom 1. Juni war noch gut zu entziffern. Würde Allie einen Monat vor der Hochzeit alles abblasen? Nachdem die Einladungen schon verschickt waren? Nicht Allie. Zu viel Hin und Her, zu viel Schusseligkeit, zu wenig Anstand.
Wenn er es sich recht überlegte, hatte Allie die Hochzeitsvorbereitungen in ihrem letzten Brief gar nicht erwähnt. Oder sogar schon länger? Walt griff nach seinem Seesack und zog die Schachtel mit Allies Briefen heraus.
Den restlichen Nachmittag vertiefte er sich in ihre Zeilen. Er konnte sehen, wie sie sich im Laufe des Jahres verändert hatte. Ihr Wille, Gott zu gehorchen, war größer geworden, ihre Unabhängigkeit gewachsen und sie ging ihr Leben und ihre Freundschaften immer aktiver an.
Walt legte den letzten Brief beiseite und rieb sich die Augen. Na großartig. Jetzt waren die ganzen Gefühle wieder da.
Aber noch etwas anderes war deutlich zu spüren gewesen. Allie hatte in diesem Jahr drei Phasen durchgemacht. Zuerst waren ihre Briefe fröhlich gewesen: Sie hatte Angst, sich ihren Eltern zu widersetzen, freute sich aber über die Veränderungen in ihrem Leben. Dann, kurz nach Weihnachten, plötzlich ein Bruch. Das war der Zeitpunkt der Verlobung. Ihre Briefe wurden flach. Sie faselte etwas von Gehorsam, von Opferbringen und solchen Sachen.
Das ergab doch überhaupt keinen Sinn. Sie war verlobt! Da sollte sie doch eigentlich glücklich sein, oder nicht? Wieso war ihm das vorher nicht aufgefallen? Vielleicht, weil die Phase ziemlich kurz war.
Da. Walt tippte mit dem Finger auf einen Brief. Daran konnte er sich noch gut erinnern. 20. Februar. Erst eine Woche Funkstille, und dann wurde ihre Stimmung plötzlich wieder besser, und sie klang fröhlicher und sicherer denn je.
Wie hatte es da um die Hochzeit gestanden? Walt überflog die letzten Briefe. Und noch mal. Er glaubte seinen Augen kaum. Kein Wort über Baxter. Kein Wort über die Hochzeit.
Walts Herz klopfte schneller als ein schief montierter Propeller. Kein Baxter, keine Hochzeit. Abgesagt im Februar von Allie, nicht von Baxter, sonst wäre sie nach der Trennung nicht so fröhlich gewesen.
Aber warum hatte sie ihm nichts davon geschrieben? Das war doch völlig unlogisch. Und was war mit der Einladung vom Juni? Wer verschickte Einladungen zu einer Hochzeit, die bereits abgesagt worden war? Das ergab nun überhaupt keinen Sinn mehr.
Er musste es herausfinden. Walt stand auf, band seinen Bademantel ordentlich zu und stieß die Füße in die Latschen. Er musste Dr. Sutherland finden und von hier fort – und zwar schleunigst.
Allie hatte gesagt, sie würde etwa eine Woche in Antioch bleiben. Ein paar Tage Genesungsurlaub übers Wochenende würde ihm der Arzt genehmigen, aber keine weite Reise nach Riverside.
Der Duft von Chipped Beef auf Toast stieg ihm in die Nase. Er sah verblüfft auf das Tablett auf dem Nachttisch. Wann war das denn gekommen? Er
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