Der Klang Deiner Gedanken
kaum gekannt, aber ihre Tränen hinterließen Pockennarben auf Bettys Brief. „Oh, lieber Gott, die arme Helen. Sie ist doch erst zwanzig! Und schon Witwe ... eine Witwe mit einem kleinen Baby. Und der kleine Jay-Jay wird seinen Vater nie kennenlernen können.“
Der Verlust wollte nicht in ihren Kopf. Bei dem Gedanken an all die Menschen, die nun trauerten, wurde ihr schwindlig. Dorothy hatte ihren Bruder verloren, Betty ihren Schwager, Walt und George und Art ihren Freund aus Kindertagen. Und Walt – er wusste noch gar nichts davon. Der Arme musste doch so schon genug durchmachen. Und Mr und Mrs Carlisle ...
Der Gedanke an das weiße Haus der Carlisles mit den hohen Oleanderbüschen ließ Allie verzweifelt schluchzen.
Der blaue Stern auf dem Banner der Carlisles würde nun gegen einen goldenen ausgetauscht werden müssen.
Kapitel 25
Über Paris
20. Dezember 1942
Walts Blick schnellte von den Instrumenten zur schluderigen Formation seiner Staffel und den angreifenden Focke-Wulf 190. Trotz der zwanzigtausend Fuß Flughöhe konnte er den Eiffelturm erkennen. Wenn er das hier überlebte, hatte er etwas zu erzählen. Und wenn nicht? Dann hatte er zumindest mal Paris gesehen.
Einhundertachtzig Meilen ins Inland, so tief war die 8. Luftflotte noch nie in feindliches Gebiet vorgedrungen. Der Fliegerhorst in Romilly-sur-Seine war ein wichtiges Ziel und die deutsche Luftwaffe bäumte sich auf, als wüsste sie, dass die Amerikaner es auf ihre Werkstatt abgesehen hatten. Seitdem sich die Spitfire-Eskorte in Rouen zurückgezogen hatte, wurden sie in Wellen von den Fw 190-Staffeln attackiert.
Ununterbrochen rief jemand über das Bordsprechgerät die Angreifer aus. Flossies Gewehre ratterten. Kugeln pfiffen und zischten vorbei. Entweder man verlor dabei den Verstand oder man machte einfach seine Arbeit.
Walt machte Letzteres. War er ein Fatalist? Wen interessierte das? Er blieb ruhig.
Frank hingegen ...
Walt seufzte. Frank war schon in der Besprechung ein einziges Nervenbündel gewesen und hatte es gerade so durch die Untersuchung auf Kriegsneurose geschafft. Wenn ihn sich der Doc doch bloß gekrallt hätte. Oder Frank sich endlich um eine Versetzung bemühen würde.
Walt sah durch den verschwommenen Kreis des Propellers auf die Seine, die sich wie eine silberne Schnur unter ihnen wand. Die Kampfflieger ließen einer nach dem anderen von ihnen ab – ein Zeichen dafür, dass sie in die Reichweite von Flakgeschützen kamen –, aber sie würden frisch aufgetankt zurückkommen und sich erneut in den Rest der hundert Bomber verbeißen.
Und tatsächlich, die Flak kam. Wie könnte er sie Allie beschreiben? Wie schmutzige Baumwollbällchen? Lieber nicht. Das Dichten überließ er besser seinem Bruder Ray.
„Wir sind am IP“, rief Louis aus dem Bug über das Bordsprechgerät.
Walt flog eine 30-Grad-Kurve und setzte zum Bombenzielflug an. Er warf einen Blick auf die Uhr. 1229. Seit einer geschlagenen Stunde waren sie unter Beschuss. Nach kalifornischer Uhrzeit musste das Feuer gegen 0330 angefangen haben. Ob Allie wieder für ihn betete? War er deswegen so ruhig? Er verspürte ein warmes Gefühl in der Brustgegend. Dass sie so oft schreiben würde, hätte er nicht gedacht. Inzwischen waren es zwei Briefe pro Woche – und er schrieb ihr genauso oft zurück.
Die Flak häufte sich. Zum Glück nicht in Flossies Nähe. Walt atmete tief ein und merkte, dass ihn ein leichtes Schwindelgefühl überkam. Mist, der Sauerstoffsack unten an der Maske war am Vereisen. Er presste ihn zusammen, um das Eis zu zerbrechen. Bei minus vierzig Grad waren seine Finger trotz Handschuhen und dem, was als Heizung in der Pilotenkanzel durchging, steif. Die armen Seitenschützen konnten von solchem Komfort nur träumen. Ihre Fenster waren offen.
„Sauerstoffcheck, Cracker. Es ist schon mindestens eine ...“
Schwarze Wolke, Feuerball – auf zwölf Uhr tief. Flossies Bug wurde nach oben gedrückt. Wie Schotter regneten Granatsplitter gegen die Scheibe. Walt riss aus Reflex seinen Kopf zur Seite. Dann sah er wieder nach vorn und richtete den Bug aus. Wie eisige Pfeile schoss durch neue Risse im Plexiglas eiskalte Luft herein.
„Fontaine? Ruben?“
„Alles okay“, sagte Abe. „Außer ein paar neue Belüftungskanäle. Ziel liegt vor uns.“
„Die ... die haben uns voll im Fadenkreuz.“ Cracker klammerte sich am Steuerrad fest.
Walt musste sich etwas einfallen lassen, um ihn abzulenken. „Der Sauerstoffcheck.“
„Gut. Okay.“
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