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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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wohnten. CORE , das Bündnis gegen Rassendiskriminierung, organisierte eine Protestveranstaltung, und meine Schwester Ruthie, frisch gebackene Aktivistin und Undergraduate an der NYU Uptown, war dabei. Sie marschierten die Lenox Avenue hinauf, eine friedliche, gesittete Demonstration. Aber dann trafen die Vordersten auf eine Polizeimauer, und das Chaos brach los, bevor Ruth oder überhaupt ein Teilnehmer wusste, was geschah.
    So wie sie es uns beim Weihnachtsessen erzählt, dauerte es nur Sekunden, bis alles schreiend durcheinander lief. Ein einziges Chaos. Ruth wollte zu den geparkten Bussen laufen, aber die Menge trieb sie zurück. »Jemand hat mich gestoßen, zu einem Polizisten hingeschubst, der da auf dem Bürgersteig stand und auf alles einschlug, was sich bewegte. Ich bekam einen Schlag ab, hier.« Sie zeigt mir wo, an meinem eigenen Oberarm.
    Eher vom Entsetzen als vom Schmerz getrieben, stürzte sie sich in das Meer von Zwanzigjährigen, die alle um ihr Leben liefen. Irgendwie kam sie aus dem Durcheinander heraus und fand nach Hause. Selbst jetzt, fünf Monate danach, kann sie noch nicht sagen wie. Ein weiteres Kind aus Harlem war umgekommen, Hunderte von Demonstranten wurden verletzt. Zwei Tage und Nächte lang quollen die Straßen über vor Men-schen. Dann breitete das Feuer sich ins Bedford-Stuyvesant-Viertel aus und in den folgenden Wochen dieses unruhigen Sommers nach Jersey City und Philadelphia. All das geschah gerade einmal ein Jahr nachdem eine Viertelmillion Menschen – Pa und Ruth verloren mitten unter ih-nen – sich auf der Mall versammelt hatten, um die größte improvisierte Rede aller Zeiten zu hören. »›Ich habe einen Traum‹«, sagt meine Schwester und schüttelt den Kopf. »Eher ein Albtraum, wenn du mich fragst.«
    Der Aufstand verpuffte, und Ruth kehrte mit ihrem geschundenen Arm ans College zurück, wo sie nun Jura statt Geschichte belegte. »Nur mit dem Gesetz kann man etwas ausrichten, Joey.« Aus der Geschichte ließ sich für das, was hier mit ihr geschah, nichts Nützliches mehr lernen.
    Die Geschichte dieses Weihnachtstags, das sind nur wir vier. Pa geht in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Jonah liegt auf dem Teppich, ganz in ein neues Geschicklichkeitsspiel vertieft, sein Geschenk von Pa. Ich sitze mit Ruth auf der Couch. Schon den ganzen Tag spüre ich, dass sie etwas auf dem Herzen hat. »Was weißt du noch von Mama?«, fragt sie schließ-lich, noch immer mit meinem Haar beschäftigt. Als hätte sie sich eine alte Tanznummer gewünscht. Erinnerst du dich? Es ist eine echte Frage, auch wenn sie die Antwort längst kennt.
    Für Jonah und mich ist dieser Besuch ein Programmpunkt auf unserer jüngsten Konzertreise – achtzehn Stationen, ein Auftritt in jedem zugigen Saal des pazifischen Nordwestens –, ein paar Tage, die wir uns freigenommen haben, um den Kontakt zu unserer Familie nicht ganz zu verlieren. Es ist schon Monate her, seit ich zuletzt so mit Ruth zusammengesessen und geredet habe. Sie hat die Krawalle mitgemacht, ihren Studiengang geändert, sich neu in engen, dunklen Kleidern eingekleidet. Sie sprudelt nur so über von Ideen, die sie auf dem College aufgeschnappt hat. Sie liest Bücher von berühmten Gesellschaftswissen-schaftlern, deren Namen ich noch nie gehört habe. In allem außer in der Musik hat sie mich überflügelt. Sie kommt mir vor wie eine fremde, exotische, weit gereiste Cousine. Früher war sie fast so alt wie ich. Jetzt amüsiert sie sich darüber, was für ein Tattergreis ich geworden bin.
    »Von Mama?«, antworte ich. Mamas alter Trick: Immer zuerst die Frage wiederholen. Damit kauft man sich Zeit. »Nichts was du nicht auch weißt.«
    Ruth lässt mein Haar los. Sie greift zu dem Bluesbuch, das sie mir geschenkt hat, und blättert darin. »Ich meine, vor meiner Zeit.«
    »Da musst du ihn fragen.« Ich weise mit dem Daumen auf meinen Vater, der in einem Oval zwischen dem unwirtlichen Ess- und seinem chaotischen Arbeitszimmer kreist, die reine Quantenoszillation. Ruth rollt nur mit den Augen. Und sie hat Recht: An Pa kommt man nicht mehr heran, er ist schon auf halbem Wege in die Dimension, in der Mama nun existiert. Er kennt jede Botschaft, die die Erinnerung an unsere Mutter für uns haben mag, aber er kann sein Wissen nicht weitergeben. Ab und zu stößt er in seiner unablässigen Bewegung ein paar Triumphlaute aus, an niemand Bestimmten gerichtet, dann verschwindet er hinter seinem Tisch und zeichnet eine Kette von Symbolen auf, Geiseln, die

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