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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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dass        sie und ihr Vihar entkommen sind. Aber ganz gleich, wo sie jetzt            sind, es ist nur eine Frage der Zeit ... Das ist das Ende, David. Es            spielt keine Rolle mehr, als was man gilt. Alle werden zusammengetrieben, alle gleichgemacht. Keiner bleibt übrig, und sie lassen uns          nicht einmal unser armseliges Masada.
     
    David zeigte seiner Frau den Brief – er bestätigte alles, was er schon lange befürchtet hatte. Jeder hatte nun Anteil an der Zerstörung des anderen. Mit dieser offenen Wunde – deine ganze Familie tot – wurden sie eins.
    Und der Junge wiederum wurde für die Eltern der Grund zum Leben. Entsetzt über die unzähligen winzigen Drohungen, die mit jedem Windstoß kamen, wärmten sie seine Milch auf ein Viertelgrad genau und sahen Woche für Woche neu, dass Kinder selbst die besten Absichten ihrer Eltern überlebten.
    »Da ist er schon«, staunte Delia. »Schon jetzt ein kleiner Mann! Seine ganze Persönlichkeit längst angelegt, ganz egal was wir für Pläne mit ihm haben. Er spielt nur das Baby für uns, nicht wahr? Ja, das ist die Erklärung.«
    Das Baby krähte seinen besorgten Eltern ins Gesicht. Als er drei Monate alt war, machten sie mit ihm einen Ausflug nach Philly. Der Junge zeigte sich für die Großeltern von seiner besten Seite, sein Plappern traf genau den richtigen Ton, beeindruckte den Großvater so sehr, dass nur noch ein Häufchen stolzer Sorge übrig blieb. Der gestandene Mediziner war ein nervöses Wrack. »Vorsicht! Gebt Acht! Ihr stoßt ihm den Kopf!«
    »Es wird Zeit, dass ihr ihn taufen lasst«, sagte Nettie Ellen. »Er ist schon so groß. Nicht wahr, mein Kleiner?«
    Delia antwortete mit einem einfachen Satz, wochenlang eingeübt. »Er kann sich taufen lassen, wenn er älter ist, Mama. Wenn er das will.«
    Nettie Ellen hob beschwörend die Hand, wies die fremden Götter ab. »Wie willst du ihn denn dann erziehen? Soll er Jude werden?«
    »Nein, Mama. Soll er nicht.«
    Nettie Ellen legte sich ihren Enkel an die Schulter und sah sich im Raum um, als suche sie eine Tür, um mit ihm zu entfliehen. »Er muss doch etwas von Gott hören.«
    Delia lächelte ihren Mann an, der am anderen Ende des Zimmers stand. »Oh, von Gott hört er fast jeden Abend.« Sie sagte nicht: In Ly-disch, Dorisch, auf Deutsch und Latein.
    Der Doktor verbot sich die Frage, auch wenn Delia wusste, dass sie kommen musste. Sie hielt ihn durch ihre Willenskraft in Schach, ließ ihn warten, bis sie selbst eine Antwort hatte. Verschob es auf den Tag, an dem die seltsame Mathematik ihrer neuen Familie eine fünfte Alternative ersann.

DEZEMBER   1964
     
    An Weihnachten sind wir alle zu Hause, Ruths zweite Winterferien, seit sie aufs College geht. Ein Dritteljahrhundert liegt das alles zurück. Die Sixties haben eben erst zu swingen begonnen. In den Charts tummeln sich langhaarige Angelsachsen, die noch dabei sind, all die verbotenen Akkorde zu entdecken, die schwarze Musiker sich schon vor Jahrzehnten angeeignet haben. Ein schwarzer Dichter geht wie im Traum seinen Weg zur Boxweltmeisterschaft. Ruth schenkt mir eine Fan-Zeitschrift für diesen dichtenden Boxer und lacht wie eine Irre, als ich sie auspacke. Danach bekomme ich mein echtes Weihnachtsgeschenk: einen Bildband über die Geschichte des Blues. Ich schenke ihr den schwarzen Pullover, den sie sich gewünscht hatte, und sie zieht ihn die nächsten zwei Tage nicht mehr aus, nicht einmal zum Schlafen.
    Sie fährt mir mit den Fingern durchs Haar. »Wieso kämmst du es immer so nach unten?«, fragte sie. »Kämmen?« Jonah lacht.
    Ich weiß nicht, was ich antworten soll. »Es wächst eben so.« »Du solltest es hochbürsten. Dann sähest du viel besser aus.« Jonah schnaubt. »Und du besorgst ihm dann einen neuen Job?« Irgendwie geraten die beiden dauernd aneinander. Es muss die Stimmung im Land sein. Der junge, hutlose Präsident ist tot – all seine Ausflüchte und Beschwich-tigungen auf dem Rücksitz einer offenen Limousine verspritzt. Noch jetzt, ein Jahr danach, trauert unser Vater um den Mann. Der neue Präsi-dent hat die Bürgerrechte im Gesetz verankert, aber zu spät, um den ersten der langen, heißen Sommer zu verhindern, die noch kommen sollten.
    In Harlem beginnt es, und meine Schwester ist dabei. Vor fünf Monaten hat ein weißer Polizist einen Negerjungen erschossen, zwei Jahre jünger als Ruth, noch nicht einmal ein Dutzend Blocks von der Straße, in der wir einst

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