Der Klang der Zeit
er nimmt, um seine Gedanken festzuhalten. Seit kurzem ist das Dickicht seines uralten Rätsels undurchdringlicher denn je. Fitch und Cronin, zwei Bekannte, die in Princeton unterrichten und drüben in Brookhaven forschen, haben die Vergangenheit auf den Kopf gestellt: Auf der Ebene der subatomaren Teilchen gibt es keine Symmetrie der zeitlichen Ordnung. Keine der Gleichungen dieser Welt lässt sich einfach umkehren. Pa stapft in einem großen, geschlossenen Kreis durch das Erdgeschoss dieses neuen, noch ungewohnten Hauses, schüttelt den Kopf, singt mit solcher Regelmäßigkeit, dass es uns schon auf die Ner-ven geht, die erste Zeile eines Lieds vor sich hin, »Ach, süßes Geheimnis des Lebens«.
Nur wir vier sind noch da, in einem Haus, in dem keiner von uns zu Hause ist. Das alte Zuhause in Hamilton Heights ist auf einen Planeten der Erinnerung verbannt, zu dem keiner von uns mehr Zugang hat. Unser Vater hat dieses Haus in New Jersey, in Fort Lee gleich hinter der Washington-Brücke, auf ein gewaltiges Missverständnis hin gekauft; er hat tatsächlich geglaubt, wir könnten dies künstliche Nest ins Herz schließen, in einem Viertel, in dem seine drei Kinder aussehen wie Besucher von einem anderen Kontinent. Gerade Ruth könnte gut eine UN–Delegierte aus einem jener jüngst in die Unabhängigkeit entlassenen Länder sein, von denen keiner weiß, wo sie überhaupt liegen.
Auch dieses Weihnachtstreffen ist nur eine traurige Farce. Ruth hat einen Kranz und ein paar Kerzen aufgetrieben, aber keiner brachte es über sich, die Wohnung zu schmücken. Der erste Tag des Chanukka-fests endete mit Fertiggerichten aus der Tiefkühltruhe. Heute am Weihnachtstag lassen wir uns etwas vom Chinesen bringen. Die Himmelsboten müssen anderswo unterwegs sein; vielleicht verkünden sie ihre frohe Botschaft oben in Palisades, wo das Observatorium der Universität steht und Hirten ihre Schäfchen zählen, die eher als wir hier unten glauben werden, dass ein neuer Stern geboren ist.
Es wird das letzte Mal sein, dass wir so zusammen sind. Überall gehen Dinge zu Ende, und selbst ich spüre an diesem Feiertag, wie sich unsere Familie in alle Winde zerstreut. Ruth sitzt auf dem Sofa, befühlt ihren Arm; fast ein halbes Jahr nach den Schlägen schmerzt die Prellung immer noch. Etwas ist mit ihr vorgegangen, seit sie auf dem College ist, aber ich kann es nicht beschreiben. Etwas, das überall im Land geschieht, und mit solchem Tempo, dass ich es schon gar nicht mehr wahrnehme. Amerikas Uhr ist stehen geblieben, und meine rast umso schneller dahin. Mama hat immer gesagt, ich sei schon alt auf die Welt gekom-men. »Der Kleine ist ein alter Mann«, flüsterte sie einmal zu Pa, als sie glaubte, ich schliefe. »Und er wird älter und immer älter werden, mit jeder Wendung des Lebens.«
Jetzt bin ich Ruths Großvater. Sie sieht mich flehend an, möchte ein Wissen von mir, das nur ein Greis wie ich noch im Gedächtnis haben kann. Ich bin ihre einzige verlässliche Verbindung zu einem Raum, den die sich wandelnden Wände der Zeit vor ihr verschlossen haben. Sie hat sich in der Zeit, in der wir fort waren, verändert. Nie wieder wird sie unsere kleine Ruthie sein. Sie trägt enge schwarze Jeans und den schwarzen Pullover mit dem V-Ausschnitt, das feine lockige Haar vergebens zu einer Afro-Frisur hochgebürstet, als sei sie eingetaucht in den reißenden Fluss der Mode und habe auf halbem Weg kehrtgemacht. Seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sich ihr Körper vollständig entwickelt. Ich wende den Blick ab, als sie sich nun vorbeugt, um mich zu fragen: »Wie war das, als ich noch klein war? Wie waren wir da?«
»Du konntest schon singen, bevor du die Augen offen hattest. Du warst die Beste, Ruth. Gegen dich waren wir Waisenknaben.«
In den ganzen Ferien haben wir kein einziges Mal zusammen gesungen. Jeder von uns hat daran gedacht, aber keiner brachte das Thema zur Sprache. Jonah und ich üben jeden Tag, aber das zählt nicht. Die einzigen anderen Noten kommen von Pa, »Ah, Sweet Mystery« in mil-lionnenfacher Schleife: Ach, süßes Geheimnis des Lebens, endlich fand ich dich! Und keiner von uns singt eine zweite Stimme dazu.
»Joey, du Blödmann!« Ruth bezieht ihr Vokabular jetzt von jenseits des Flusses, aus Brooklyn, als sei sie in einer ganz anderen Familie groß geworden. Was man ja auch hätte sagen können. »Ich habe nicht nach mir gefragt!«
Wir blicken beide Jonah an, den Einzigen, der alt genug für echte Informationen
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