Der Klang der Zeit
wäre. Aber der liegt da und spielt mit seinem Puzzle und summt dazu den paradiesischen Schlusschor aus Faurés Requiem. Er hebt die Augenbrauen, als wir ihn erwartungsvoll ansehen – Hmm?–, als hätte er nicht gehört, wovon wir sprechen. »Altistinnen!«, ruft er dann. »Wir brauchen Altistinnen!« Vee need, ein Scherz, der nie alt wird. Er macht den deutschen Akzent so gut nach, dass selbst Pa, das, was einmal sein Körper war, innehält und lächelt. »Altstimmen!«, stimme ich pflicht-gemäß ein. »Frau, wann schaffst du mir Altstimmen?«
Ruth, die echte Stimmenimitatorin, lacht über den alten Scherz. Aber sie greift ihn nicht auf. Die Altistin hat keine Note mehr gesungen, seit sie aufs College geht. Sie rümpft die Nase. »Nein! Nein, ihr Armleuch-ter!« Sie schlägt mit der flachen Hand aufs Sofa. Sie packt mich am Arm, beugt sich vor, beißt mich. »Was weißt du über Mama?«
Das ist die Frage, die meine Schwester an diesem Weihnachtsfest beschäftigt – meine Schwester, die gerade erst zehn war, als die Welt, nach der sie fragt, in Flammen aufging. Sie war die Erste von uns, die das Feuer sah, in dem all unsere Bilder verbrannten. Aber jetzt ist die Erinnerung undeutlich geworden, unzuverlässig, mit Ausnahme des Feuers, das sie noch vor sich sieht wie damals. Sie glaubt, Jonah und ich hätten unser Wissen besser bewahrt. Aber da macht sie sich etwas vor. Unsere Schwester will zurück an einen Ort, der keine Dimension hat, keinen Zugang, nicht einmal den, den wir jetzt für sie erfinden sollen.
Ich warte, was Jonah antwortet. Ruth stößt ihn mit der Schuhspitze an. Aber er summt nur weiter Faurés süße Totenmesse und schiebt seine Puzzleteile hin und her. Es ist nun einmal in diesem Leben meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass keiner, den ich liebe, ohne Antwort bleibt. Und bei diesem Weihnachtsfest stehe ich mehr denn je auf verlorenem Posten. Es wird Zeit, dass ich mich nach einer besseren Arbeit umsehe. »Du willst Geschichten aus den Jahren vor deiner Geburt?«
»Vorher. Hinterher. Ich kann ja nicht wählerisch sein.« Meine Schwes-ter spricht zu ihren Händen, mit denen sie die Quasten eines Kissens zurechtzupft, ihr Weihnachtsgeschenk für Pa. Es ist golden und burgunderrot, nichts, was sie jemals in ihre eigene Wohnung ließe. »Um Himmels willen, Joey! Ich nehme alles, was du hast!« Ihre Stimme ist ein verzweifelter Aufschrei. »Ich verliere Mama. Das Bild verschwimmt immer mehr.«
Aber alles, was ich mit Gewissheit weiß, kann meine Schwester nicht brauchen. Bei den Sachen, die sie braucht, habe ich keine Gewissheit. Ich wühle im imaginären Schuhkarton der Vergangenheit, zwischen all den verbrannten Schnappschüssen. Ein mittäglicher Schatten fällt auf die Couch, genau zwischen uns. Mama ist hier. Ich kann sie sehen: Das Gesicht, das ich einmal für mein eigenes Spiegelbild hielt, sein Mund der Inbegriff aller Münder, das Auge alle Augen. Aber auch mir ist das Bild verschwommen. Ich könnte ihre Züge nicht mehr genau beschreiben. Da ich nichts zur Gegenprobe habe, kann ich nicht sagen, wie sehr ich sie schon verändert habe. »Sie sah aus wie du, Ruth. Ein wenig größer, ein wenig runder.«
Jonah brummt zur Bestätigung. Ruth blickt zu ihm hinunter, ärgerlich, skeptisch. »Wie klang ihre Stimme?«
Das Timbre ihrer Stimme steckt in meinen Knochen. So dicht gepackt, dass ich nichts davon hervorholen kann. Der Klang ist zweite Natur, aber jeder Versuch, ihn zu beschreiben, wäre schlimmer als eine schlechte Aufnahme. So nicht und so auch nicht. Ich könnte nicht sagen, wie meine Mutter klang, genauso wenig, wie ich mich singen hören kann. Nicht einmal Jonah kann diese Stimme nachahmen.
»Sie ... ich weiß auch nicht. Sie hat uns immer ›JoJo‹ genannt. Uns zwei zusammen.« Ich versetze meinem reglos daliegenden Bruder einen Tritt. »Als ob wir ein einziges Kind wären, nur mit zwei Körpern.«
»Das weiß ich.« Ruth rutscht ungeduldig hin und her. Sie will etwas anderes hören.
»Sie war eine großartige Lehrerin. Im selben Atemzug hat sie uns gelobt und verbessert. ›JoJo, das ist großartig. Beinahe perfekt. Noch ein paar Mal üben, und ihr kriegt den Oktavsprung auch noch hin.‹«
Jonah nickt nur. Nebenrollen liegen ihm nicht. Mittlerweile macht er sich gar nicht mehr die Mühe, auf die Bühne zu kommen, wenn es nicht die Hauptrolle ist.
»Hatte sie Schüler?«
»Jede Menge. Erwachsene, Naturtalente, die ihre Begabung für die Musik entdeckt hatten. Teenager
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