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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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als sei er nur für einen Augenblick der Erinnerung von den Toten zurückgekehrt. Alle Zuhörer in der Kathedrale hielten die Luft an vor Staunen. Mein Bruder hatte mir bei unserem Telefonat verraten, was diese Vollkommenheit speiste. Er hatte den reinen, unerschöpflichen Quell der Gleichgültigkeit entdeckt; er wusste, wie herrlich alle Töne für uns klingen werden, wenn sie einst hinter uns liegen.
    Nach dem zweiten Beifallssturm hatte ich das Gefühl, er hätte mich gesehen, auf meinem Platz in der zehnten Reihe. Aber sein Lächeln war selbst für einen lässigen Gruß zu flüchtig. Während des restlichen Konzerts gab es kein Anzeichen dafür, dass er überhaupt etwas empfand außer körperloser Anmut. Nicht nur die Hautfarbe hatte er hinter sich gelassen. Er hatte das ganze Leben hinter sich gelassen.
    Ich war so voller Ungeduld, dass ich von der zweiten Hälfte des hinreißenden Konzerts kaum etwas wahrnahm. Je berückender die Musik, desto mehr fühlte ich mich, wie ich dasaß und zuhörte, wie ein Verbrecher. Bis zur zweiten Zugabe, John Sheppards In manus tuas, hatte ich mir jeden winzigen Verrat, den ich jemals begangen hatte, in Erinnerung gerufen. Mit wildem Applaus entlockte das Publikum ihnen zwei weitere Zugaben.
    Als ich mich endlich in das Defilee der Gratulanten einreihte, war ich mit den Nerven am Ende. Jonah stürzte auf mich zu, als er mich vorn in der Schlange entdeckte. Aber beim Näherkommen verdüsterte sich seine Miene ein wenig. »Du bist allein? Nicht böse sein, Joey. So habe ich das nicht gemeint.«
    »Natürlich bin ich allein.« War es jemals anders gewesen?
    »Sie wollten nicht mitkommen?« Es schien seine schlimmsten Befürch-tungen zu bestätigen.
    Sämtliche Lügen, die wir uns je aufgetischt hatten, kamen mir in den Sinn. Ich ersparte sie ihm alle.
    Wir waren umringt von neidischen Bewunderern, die einfach nur diesen Sängern nahe sein wollten, Sängern, die alle Ketten abgestreift hatten und Töne hervorbrachten, von denen andere nur träumen konnten. Die Umstehenden musterten uns mit dem Blick von Menschen, die lauschen, auch wenn sie tun, als hörten sie nicht hin. Jonah starrte mich an. »Warum? Warum wollte sie nicht mitkommen? Wie lang ...« Ich zuckte die Achseln. Er verzog den Mund. »Na gut.« Er legte mir die Hand um die Schultern und führte mich zurück in den Kreis der anderen alten Stimmen. »Na, wie fandest du den Taverner? Warst du der Stimme Gottes je näher als da?«
    Und dann waren die anderen da. Hans Lauscher begrüßte mich mit unbeholfener Herzlichkeit. Marjoleine de Groot schwor, dass ich jünger aussah als bei meiner Abreise. Peter Chance klopfte mir auf die Schulter. »Wie lang ist das jetzt her?«
    Ich lächelte nach Kräften. »Seit mindestens 1610.«
    Ich hatte das Gefühl, dass ich alle aufhielt. Jonah musste sich wieder um seine Fans kümmern. Er war die Freundlichkeit selbst. Er signierte Programmhefte und lächelte für Fotos mit gewichtigen Geldgebern. Wildfremde Menschen wollten ihn zum Essen einladen, ihn mit Berühmtheiten bekannt machen, Partys zu seiner Ehre veranstalten. Auch wenn es bei diesem Ensemble keinen Leiter gab, hörten doch auch die Unmusikalischsten, woher der Zauber rührte. Die Aristokratie des Computerzeitalters sehnte sich danach, dass mein Bruder sie so sehr liebte, wie sie ihn. Ich stand daneben und sah zu, wie Jonah seine Bewunderer in Bann schlug wie ein begnadeter Wunderheiler. Erst nach Mitternacht waren wir wieder allein.
    »Du hast mir versprochen, dass du mir dein Provinznest zeigst«, sagte Jonah.
    »Jetzt nicht. Zu spät am Abend. Sie würden auf uns schießen. Komm vorbei und sag Ruth guten Tag. Morgen früh.«
    Er schüttelte den Kopf. »Sie will das nicht.«
    »Nein? Oder willst du etwa nicht? Einer muss den ersten Schritt tun, Jonah.«
    Er legte mir die Hände auf die Brust. »Du hast ein paar ganz neue, kraftvolle Töne in dir, Bruder.« Sein Lächeln verschwand, als ich nichts darauf antwortete. Er zog die Hand zurück. »Ich kann nicht. Ich kann mich ihnen doch nicht aufdrängen.«
    »Dann komm am Montag in die Schule. Schau dir die Kinder an. Sie wird da sein. Es ist ganz einfach.«
    »Ich wünschte, das ginge. Aber wir reisen morgen weiter.« Es klang fast, als sei er erleichtert.
    »Dann komm wenigstens am Vormittag. Einfach nur so. Ich lad dich zum Frühstück ein.«
    »Einverstanden. Sag mir, wie ich hinkomme.«
     
    Er kam zu meiner Wohnung. Bis ich die Tür öffnete, hatte er genug Zeit gehabt, sein

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