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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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mal hören, was der draufhat.« Aber mein Neffe hielt nicht einmal die erste Hemiole aus. »He, mir platzt der Kopf, Mann. Willst du mich verarschen?«
    Der kleine Robert, neben ihm, quietsche vor Vergnügen. »Echt Mann, das ist für 'n Arsch, Mann.« Ich starrte ihn an. Er grinste, dann hielt er sich die Hand vor den Mund.
    Ich ging wieder zu Ruth. »Na, was halten sie davon?«, fragte sie. Einen Moment lang schien sie zu hoffen, dass sie es gut fanden.
    »Sie sagen, sie warten lieber auf das Video.«
    Sie hob die Hände. »Was erwartest du, Joe? Das ist nicht unsere Welt.«
    »Unsere Welt kann überall sein. Überall, wohin wir gehen.«
    »Sie wollen uns da nicht haben. Und deswegen haben wir dafür keine Zeit.«
    »Beides geht nicht, Ruth. Entweder sie entscheiden oder wir.« Sie schwieg. »Er möchte, dass du mitkommst, Ruth. Er möchte, dass wir alle vier kommen.«
    Ich hielt ihr die Eintrittskarten hin, die Jonah geschickt hatte. Sie betrachtete sie, aber sie rührte sie nicht an. »Fünfundvierzig Dollar? Können wir die nicht zu Geld machen? Denk an all die Mahlzeiten, die wir damit in der Suppenküche ...«
    »Ruth. Tu es doch für mich. Es quält mich so sehr.«
    Sie überlegte. Sie überlegte lange. Aber der größte Schmerz in meinem Leben war bedeutungslos im Vergleich zu dem, was sie quälte. Sie lächelte versonnen, aber es galt nicht mir. »Kannst du dir vorstellen, dass Robert und ich uns in Schale werfen, um zu so einem Konzert zu gehen? Nicht ohne dass wir einen Beutel voll Stinkbomben dabeihaben, mein Lieber.« Dann, ohne mich anzusehen, vergab sie mir mein Vergehen. »Geh du, wenn du willst. Du solltest gehen.« Ich wandte mich um. »Er kann gern herkommen, wenn er will.«
    Am Freitag des Konzerts fuhr ich allein zur Grace Cathedral auf der anderen Seite der Bucht. Ich kannte das Tourneegeschäft gut genug, um mich nicht vorher bei Jonah zu melden. Natürlich meldete er sich auch nicht bei mir. Ich saß unerkannt in dem pseudofranzösischen Kirchenschiff, erstaunt über die große Zahl von Zuhörern, die zu dem Konzert erschienen waren. Wann immer ich in der Vergangenheit als Interpret klassischer Musik aufgetreten war, hatte das Publikum nur aus missmutigen und uralten Menschen bestanden. Überwiegend aus uralten. Entweder gehörte diese Kunst tatsächlich einer vergangenen Epoche an, oder manche Menschen erwachten eines Tages, gebeugt vom Alter und erfüllt von der Sehnsucht, ein Repertoire kennen zu lernen, das schwerer war als die Bürde des Lebens, bevor der Tod kam und all ihre Bindungen löste. Klänge, die fast so alt waren wie der Tod, Klänge, die ihnen niemals gehört hatten, Klänge, die niemandem mehr gehörten. Denn die Toten kannten keinen Besitz.
    Dieses Publikum aber war jung, lebendig, gepflegt – und neugierig. Ich hörte zwei Paaren hinter mir zu, während die Spannung vor dem Kon-zert wuchs. Sie verglichen die Qualitäten der Tallis Scholars und des Hilliard Ensembles als handele es sich um zwei edle Weine aus Burgund. Die Platten, von denen die Rede war, kannte ich nicht. Dafür war ich zu lange aus dem Geschäft. Ich drehte mich um und sah, wie die Reihen sich füllten. Kaum mehr als ein Dutzend schwarzer Gesichter. Aber natürlich konnte man das nicht nach dem Augenschein beurteilen.
    Das Publikum verstummte, und das Ensemble betrat die Bühne. Der Applaus verblüffte mich. Die Kirche war voller Fans, Menschen, die jahrelang daraufgewartet hatten, diese Töne zu hören. Plötzlich packte mich die Panik: Ich war nicht angezogen. Ich wusste nicht, was wir sangen. Wie sollte ich auf die Bühne kommen, ohne mich bis auf die Knochen zu blamieren ? Eine Sekunde später war ich wieder ein glücklicher Niemand.
    Die sechs Sänger – darunter zwei, die ich noch nie gesehen hatte –schlenderten wie beiläufig an ihre Positionen auf der Bühne. Sie waren eleganter gekleidet als damals zu meiner Zeit. Aber sie bemühten sich noch immer um die gleiche sorgfältig einstudierte provokante Lässigkeit. Mein Bruder blieb stehen, wandte sich um und starrte über die Köpfe des Publikums ins Leere. Die anderen schienen wie gebannt von der Stille. Einen schrecklichen Augenblick lang standen sie reglos, so wie wir immer gestanden haben mussten, holten tief Atem, den Blick nach innen gekehrt. Dann erklangen die ersten kristallklaren Quinten.
    Alle sechs waren unbeschreiblich, nicht in Worte zu fassen. Jonah aber schwebte über der Bühne. Seine Stimme klang, als komme sie aus dem Jenseits,

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