Der Klang der Zeit
es mir, dieses Ding, das angeblich ein Junge ist. So viele Nächte hintereinander, dass ich es gar nicht mehr zählen kann. Er liegt da in seinem Sonntagsstaat, dem makellos gestärkten Hemd, und oben, wo sein Gesicht sein sollte, der groteske Pilz. Dann setzt er sich auf. Sein Leib knickt in der Mitte ein, und sein Gesicht kommt auf mich zu. Er steht auf, er will zu mir, der zerschmetterte Mund lächelt, er will freundlich sein, will mir etwas sagen. Ich versuche zu schreien, aber mein eigenes Gesicht ist nun ebenfalls zur Gummimaske geworden, genauso gestaltlos wie das seine. Schweißgebadet wache ich auf, mit einem matten Stöhnen, einem Laut, der eher nach einer Kuh als nach einem Menschen klingt. Mein Bruder, im Bett über mir, wird davon wach. »Jetzt schlaf schon!«, schnauzt er mich an. Was mir fehlt, fragt er nicht.
Das Begräbnis des Jungen in Chicago bewegt die ganze Nation. Pa fragt meine Mutter, ob sie dabei sein will. »Wir könnten doch zusammen hinfahren. Seit Fermi tot ist, bin ich nicht mehr an der Universität von Chicago gewesen. Ich könnte uns eine Einladung besorgen. Dann wären wir mittendrin in der South Side.«
Mama lehnt ab. Sie hat ihre Gesangschüler, und Ruth kann nicht in der Schule fehlen. Aber auch mit dreizehn weiß ich schon, was es wirklich ist: Sie kann nicht am Arm eines Mannes, der so weiß ist wie mein Vater, zu diesem Begräbnis gehen; nicht zu diesem.
Zehntausend Leute kommen, um einen Jungen zu betrauern, den höchstens hundert davon gekannt haben. Jeder hat sich eine Grabrede zurechtgelegt, summt ein ganzes Gesangbuch aus lauter Erklärungen. Der arme Junge, die degenerierten Hinterwäldler, die entsetzliche Vergangenheit des Landes: Das ist das Begräbnis, zu dem das weiße Amerika sich einfindet. Aber das schwarze Chicago, das schwarze Mississippi, die Freunde der Mutter (der Frau, die vorige Woche noch die Mutter des Jungen war) holen ihren schwarzen Anzug aus dem Schrank – es bleibt nicht einmal Zeit, ihn zu bügeln – und stimmen wieder ihre alten Klagelieder an, denn etwas anderes haben sie nicht.
Während des ganzen Gottesdienstes bleibt der Sargdeckel offen. Die Leute ziehen vorbei und werfen einen letzten Blick oder vorletzten oder vorvorletzten. Die Menschen versammeln sich von neuem, nun wieder in Mississippi, als Bryant und Milam vor Gericht stehen. Alle drei Fernsehsender, damals noch in den Kinderschuhen, sind dabei, und auch die Wochenschauen sorgen dafür, dass ihre Zuschauer Zeuge werden, abgestoßen und doch gebannt.
Ein schwarzer Kongressabgeordneter aus einem nördlichen Bundesstaat lässt es sich nicht nehmen, persönlich zu dem kleinen Gerichtsgebäude in Sumner zu kommen. Der Gerichtsdiener verweigert ihm den Zutritt. Der Nigger hier sagt, er war im Kongress. Schließlich müssen sie ihn doch einlassen, aber er bekommt nur einen Platz hinten bei der Presse und der Hand voll farbiger Zeugen, die gesetzlich vorgeschrieben ist.
Im Gerichtssaal herrscht eine Gluthitze. Selbst der Richter kommt in Hemdsärmeln. Die Beweislage ist eindeutig. Die Rillen, die die Spindel in einer Entkörnungsmaschine zurücklässt, sind unverwechselbar, und die Spindel, die jemand Emmett Till mit Stacheldraht um den Hals gebunden hat, gehört zu der Maschine, die nach wie vor in J. W. Milams Scheune steht. Der Staatsanwalt fragt Mose Wright, ob er jemanden im Gerichtssaal sieht, der mit der Entführung seines Großneffen zu tun hatte. Der vierundsechzigjährige Prediger erhebt sich, allein gegen alle Macht der Welt, und zeigt mit dem Finger auf Milam. Es ist ein Finger, der einen großen Bogen beschreibt, wie die Hand Gottes, die mit strafendem Fingerzeig den ersten Menschen schuf. »Er da.« Zwei Worte, der erste Schritt in eine unumkehrbare Zukunft.
Die Verteidigung ist so verschlagen, wie die Staatsanwaltschaft offen war. Die Leiche, die vom Flussgrund auftauchte, sei zu entstellt gewesen, um sie zu identifizieren, zu verwest für einen Toten, der nur drei Tage im Wasser gelegen habe. Den Siegelring könnten Negerfreunde aus dem Norden der geschundenen Leiche angesteckt haben, Leute, die Unruhe stiften wollten an Orten, an die sie nicht gehörten. In Wirklichkeit sei der Junge womöglich noch am Leben, verstecke sich irgendwo in Chicago, eine Verschwörung gegen ein paar Männer, die nichts weiter getan hätten als ihre Frauen zu verteidigen. Während des ganzen Prozesses sitzen die Angeklagten bei ihrer Familie, rauchen Zigarre und blicken mit blasierter Miene
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