Der Klang des Herzens
immer müde. Sehnsüchtig stellte sie sich vor, wie schön es wäre, sich einfach in die alten, zerbeulten Kissen zurücksinken zu lassen …
»Wir kriegen das doch wieder hin, oder, Mum?«
Isabel setzte sich mit einem Ruck auf. »Ja, natürlich.« Sie konnte überzeugend sein, wenn sie wollte. Sie rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab, doch da fiel ihr Blick auf ein Blatt mit Laurents Unterschrift. Plötzlich sah sie ihn vor sich, wie er gerade unterschrieb, auf seine großspurige, wegwerfende Art, wie er dabei kaum aufs Blatt schaute. Ich werde diese Hände nie wieder sehen, dachte sie. Die kräftigen Finger mit den muschelrosa Nägeln. Ich werde sie nie wieder auf meiner Haut spüren. Von ihnen gestreichelt, gehalten werden. Nach neun Monaten kannte sie diese Augenblicke, wenn der Kummer sie traf wie ein Keulenschlag. Nein, Trauer geht nicht gnädig mit einem um. Sie erfasst einen wie eine Flutwelle, reißt einen von den Füßen, droht einen nach unten zu ziehen. Wie konnten diese Hände einfach aufhören zu existieren?
»Mum, das musst du sehen.«
Sie brauchte all ihre Kraft, um sich wieder auf Kitty zu konzentrieren. Ihr war fast schwindlig, ihr Gesicht fühlte sich verzerrt an, als könne sie ihre Züge nie wieder zu einem normalen, entspannten Ausdruck zwingen.
»Sortiere einfach alle Rechnungen aus, Liebes.« Laurent , schrie sie innerlich, wie konntest du uns bloß verlassen? »Weißt du was? Wir machen das morgen fertig. Ich … ich glaube, ich
brauche jetzt erst mal ein Glas Wein.« Sie konnte selbst hören, wie ihre Stimme zitterte.
»Nein. Das musst du dir anschauen.« Kitty wedelte mit einem anderen Schreiben.
Sicher irgendwas, das sie unterschreiben, entscheiden musste. Ich kann das nicht! Wie kann ich alles aufgeben? Das ist nicht fair!
»Jetzt nicht, Kitty«, presste sie hervor.
»Aber schau doch mal. Da.«
Sie drückte ihr den getippten Brief in die Hand.
»Ich weiß nicht, ob das ein Scherz sein soll, aber da steht, dass dir jemand ein Haus vermacht hat.«
»Ist das nicht alles ein bisschen … überdramatisch?«
Fionnuala spielte ebenfalls beim City Symphony Orchestra und machte gerade Mittagspause. Sie saßen in ihrem gewohnten Bistro, in dem sie immer saßen (in Isabels Fall gesessen hatten), unweit des Auditoriums, aus dem auch jetzt verschiedene Töne drangen. Ein Bass wurde gestimmt, und jemand versuchte sich an ein paar Tonleitern auf einer Oboe. Isabel litt unter akutem Heimweh nach ihrem alten Leben und unter der Traurigkeit über den Verlust ihres alten Ichs.
Vor einem Jahr war ich noch ahnungslos und unschuldig, dachte sie. Da wusste ich noch nicht, was Kummer und Verzweiflung sind. Und jetzt beneidete sie ihre Freundin, die ihr sorglos schwatzend gegenübersaß und nicht ahnte, in welche Abgründe Isabel gestürzt worden war. Das sollte ich sein, die da sitzt und sich über den Dirigenten beschwert, mit den Gedanken noch halb beim letzten Adagio, dachte sie.
»Geht das nicht zu weit? Ich meine, schüttest du nicht vielleicht das Kind mit dem Bade aus?« Fionnuala nippte an ihrem Wein. »Mann, ist der gut.«
Isabel schüttelte den Kopf. »Es ist besser für die Kinder. Ein hübsches Landhaus, eine gute staatliche Schule, ein kleiner,
überschaubarer Ort. Du weißt doch, wie schrecklich die Parks in London sind – Mary beschwert sich die ganze Zeit darüber, dass sie immer erst eine halbe Stunde lang Glasscherben aufpicken muss, bevor die Kinder anfangen können zu spielen.«
»Aber hättest du dir das Haus nicht wenigstens zuerst mal anschauen sollen? Dir ein bisschen Zeit lassen?«
»Aber wir haben keine Zeit, Fi. Wir haben kein Geld. Außerdem hab ich’s schon gesehen. Ich bin als Kind mal mit meinen Eltern dort zu einer Gartenparty eingeladen gewesen. Es war richtig schön.« Das glaubte sie fast.
»Aber Norfolk? Und es liegt nicht mal in der schönen Gegend, an der Küste. So ein Riesenschritt. Ihr kennt doch niemanden dort. Außerdem magst du das Landleben doch gar nicht. Bist kaum der Gummistiefel-Typ.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Versteh mich bitte nicht falsch, Isabel, aber du bist manchmal ein bisschen zu … impulsiv. Du solltest erst mal wieder zu uns zurückkommen und ein bisschen Geld verdienen. Vielleicht reicht es ja doch. Und ich bin sicher, dass jeder dir helfen wird, ein paar Extra-Engagements zu kriegen. Menschenskind, du bist erste Geigerin! Oder du könntest Unterricht geben.«
Isabel hob eine Braue.
»Gut, ich weiß,
Weitere Kostenlose Bücher