Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
ablenken, Rick.“
„Klar will ich das“, gab er offen zu, und dabei fiel sein Blick auf den kleinen Paul, der immer noch schweigend neben ihm saß und die Unterhaltung der Männer aufmerksam verfolgte, wohl ohne etwas verstehen zu können. Er wandte sich in ihrer gemeinsamen Muttersprache an den Burschen: „Was tust du eigentlich noch hier? Wissen deine Eltern, wo du bist?“
„Ich hab mich aus der Kabine geschlichen, Herr Martin. Mein Vater schnarcht und Mama kann nicht schlafen und schwärmt mir die ganze Zeit von diesen entzückenden Hoffmann-Jungen vor 11 .“
Dylan, der nun seinerseits ihrer Unterhaltung nicht folgen konnte, sammelte seine Spielkarten ein, auf deren Rückseite die rote Flagge mit dem weißen Stern der White Star Line abgebildet war. Vermutlich handelte es sich um ausgediente Karten der ersten Klasse eines anderen Liners.
„Ich muss los, Rick. Vielleicht kannst du diese kleine Bordratte hier ja überreden, Norah deine Nachricht zu bringen. Ich könnte mir vorstellen, dass der Kleine das besser hinbekommt als du.“ Dylan klopfte Paul auf die Schulter, der damit nicht gerechnet hatte und gegen Richard prallte.
„Das war dein Ritterschlag, Paul“, erklärte Richard dem verwirrten Kind. „Dylan scheint dich zu mögen.“
Paul blickte den beiden Iren bewundernd hinterher. „Der hat Kraft für drei Männer“, murmelte er ehrfürchtig.
„Der arbeitet auch für drei.“
„Wenn ich etwas für Sie erledigen soll, geben Sie mir dann was dafür? Im Barbiergeschäft kann man nämlich Spielzeug und Ansichtskarten kaufen.“
Richard, der staunte, wie viel der Junge von der Unterhaltung der Männer mitbekommen hatte, schaute ihn prüfend an.
„Ich verstehe Englisch ganz gut. Mama wollte mich auf Amerika vorbereiten und hat ein paar Monate lang einen Sprachlehrer für mich engagiert. Und ich hätte gern eine Ansichtskarte von der Titanic .“
„Wem willst du denn schreiben?“
„Niemandem, Herr Martin. Aber wenn wir erst mal in Amerika sind, hänge ich mir die Karte von der Titanic über mein Bett, als Beweis, dass ich mit dem tollsten Schiff der Welt gefahren bin.“
„Es wird aber nicht einfach sein, die Stewardess zu finden, die ich suche. Sie arbeitet in der ersten Klasse.“
„Da war ich vorhin schon mal. Und keiner hat mich erwischt! Sie sollten mal die verzierten Handläufe der Treppen sehen und die vergoldeten Kristallleuchter. Oder den weißen Speisesalon mit den Säulen und goldenen Verzierungen und Vorhängen.“
„Wo warst du denn noch nicht?“, brummte Richard bewundernd. Von Klassentrennung hielt der kleine Bursche offenbar nichts.
„In dem Sportraum, steuerbords beim Bootsdeck. Da hat mich Mr McCawley, dieser kleine Sporttrainer, gleich wieder rausgeworfen. Blöd, nicht?“
„Blöd, ja“, bestätigte Richard nachdenklich. Er entschied, einen Versuch zu wagen. Allerdings konnte er Paul nicht erklären, wo genau sich die Kabinen der Stewardessen befanden, weshalb er ihm Norahs Aussehen beschrieb.
Aufmerksam hörte der Junge zu. „Es gibt nur wenige Stewardessen. Ich suche mir einfach die größte von denen raus. Wenn sie dann noch schwarze Haare hat, wird es schon die richtige sein.“
Richard nickte und zog seine bereits fertig verfasste Nachricht aus der Westentasche.
„Und was krieg ich dafür?“, wollte Paul schließlich wissen.
„Eine Postkarte von der Titanic .“
„Einverstanden! Wir treffen uns vor unserem Speisesaal“, rief der Junge und spurtete schon am Fockmast vorbei zu der Eisentreppe, die ihn hinunter auf das vordere Zwischendeck bringen würde.
Nach Richards anschließendem kleinem Spaziergang über das Bootsdeck machte er sich auf den Weg zum Speisesaal. In dem Augenblick, als er seine Kabine erreichte, flitzte Paul durch den langgezogenen Korridor bereits auf ihn zu.
„Sie ist gar nicht an Bord!“, rief der Junge schon von Weitem.
Richard stieß die Luft laut durch die zusammengepressten Lippen aus und zeigte damit, dass er Paul nicht glaubte.
Entrüstet stemmte der seine kleinen Hände in die Seiten. „Die haben mich gleich oben an der breiten Freitreppe, unter dieser riesigen Glaskuppel abgefangen, als ich zum Speisesaal wollte“, erklärte er. „Ein Steward und eine junge Stewardess. Sie musste mich zurück zur zweiten Klasse bringen. Sie heißt Viola oder so ähnlich und kann ein bisschen Deutsch. Als ich sie nach Norah Casey gefragt habe, hat sie mich ganz komisch angeschaut und dann aus ihrer Schürze einen Zettel
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