Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
unmöglich allen Passagieren gelungen sein konnte, in einem Rettungsboot unterzukommen. Mit Sicherheit hatten die wenigsten von ihnen gewusst, welche Anzahl an Booten auf der Titanic überhaupt zur Verfügung stand. Während die einen Überlebenden mit leerem Blick vor sich hin starrten, irrten andere auf der Suche nach ihren Lieben über die Decks.
Adam entdeckte bei seinem Rundgang Ruth Becker. Genau wie er suchte sie das Schiff ab und rief verzagt nach ihren Familienangehörigen. Schnell rannte er ihr nach und ergriff sie am Arm. Sie wirbelte herum, doch das freudige Aufflackern in ihren Augen erlosch sofort, als sie erkannte, dass es sich bei ihm nicht um ein Mitglied ihrer Familie handelte. Bedauernd zog er die Schulter nach oben.
„Haben Sie Rick … ich meine, Mr Martin gesehen?“, fragte er das Mädchen.
„Er hat mich zu einem der Rettungsboote gebracht. Da, wo Sie auch waren. Er wollte Paul, James, Jonathan und deren Familien suchen. Auch die Familie von Niklas. Aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Auch meine Mutter und meine Geschwister nicht. Darf ich bitte weitersuchen?“
„Natürlich, Miss Becker.“ Adam ließ das Mädchen gehen und erneut glitt sein Blick über die in Decken gehüllten Menschen hinweg.
Eine ältere Dame trat zu ihm, und nachdem sie Ruth eine Weile nachgesehen hatte, sagte sie: „Sie ist erst zwölf Jahre alt und war so tapfer. Sie hat auf dem Rettungsboot ihren Mantel verliehen und Decken verteilt. Einer deutschen Mutter, die ihr Baby nicht bei sich hatte, hat sie Trost gespendet. Sie hat auch anderen Frauen Mut zugesprochen. Eigentlich sollte sie einen Orden bekommen.“
Nach einer kurzen Pause, während sich Adam noch immer suchend umsah, aber höflich bei der älteren Dame stehen blieb, fügte sie entschieden hinzu: „Nein. Sie sollte ihre Familie wiederbekommen!“
Die Frau berührte ihn am Arm. „Warum wurden ich und andere alte, alleinstehende Frauen in die Boote gelassen, während frisch verheiratete Ehemänner weggeschickt wurden? Oder Familienväter? Es ist nicht richtig, all diese Frauen mit ihren kleinen Kindern sich selbst zu überlassen.“ Damit drehte sie sich um und hinkte davon.
Eine andere Frau stürmte auf Adam zu, umklammerte seinen immer noch nassen, mit einer dünnen Eisschicht bedeckten Jackenärmel und klagte: „Warum sind die Rettungsboote so leer gewesen? Wo sind mein Mann und mein Sohn?“
„Man befürchtete, die Boote könnten auseinanderbrechen, wenn sie vollbeladen an den Davits hängen“, versuchte Adam zu erklären, was er selbst nicht verstand.
„Dann hätte man sie doch hinunterlassen und weiter unten noch mehr Passagiere einsteigen lassen können.“
„Madam, es gab diesbezügliche Anweisungen vonseiten der Offiziere. Aber warum das nicht funktioniert hat, weiß ich nicht. Ebenso gab es die Anweisung, das Schiff anzusteuern, dessen Positionslichter angeblich gesehen worden waren. Wären die Passagiere dort aufgenommen worden, hätten die Rettungsboote zurückkehren können. Aber das Topplicht muss eine optische Täuschung gewesen sein.“ 22
„Vielleicht hätten die Stewards nicht alle Leute auffordern sollen, hinauf auf das Bootsdeck zu gehen?“, zischte die Frau wütend.
Adam fühlte sich vollkommen hilflos, als sie begann, mit geballten Fäusten auf seine Brust einzuschlagen. Dann erschlaffte sie plötzlich und sackte in sich zusammen. Fürsorglich fing er sie auf und half ihr, sich auf den Speisesaalboden zu setzen, wo sie ihren Kopf gegen sein Knie lehnte und bitterlich weinte. Wenig später erschien eine der Carpathia -Stewardessen, und Adam lächelte sie hilfesuchend an. Sie gab ihm durch einen Wink zu verstehen, dass sie sich nun um die Verzweifelte kümmern würde.
Adams Kopf schmerzte, und er fragte sich, ob seine Suche nach Richard überhaupt einen Sinn hatte. Er hatte unter Deck die Familie eines seiner jungen Freunde gesucht. Vermutlich hatte er – wie so viele andere – nicht rechtzeitig einen Ausweg aus dem Inneren des Schiffes gefunden. Dieser Tatsache war es wohl auch anzulasten, dass ganz plötzlich, als die Rettungsboote alle schon abgelegt hatten, noch einmal Hunderte von Menschen auf das Bootsdeck geströmt waren.
Der junge Matrose sah sich ein weiteres Mal suchend um. Wie zuvor in den Rettungsbooten verhielten die Menschen sich eigentümlich still: nur ein paar von ihnen strebten leise rufend durch die Reihen. Und es waren so wenige, so erschreckend wenige!
Adam senkte den Kopf. Eine
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