Der Klang des Todes - Bartosch Edström, C: Klang des Todes - Furioso
arbeitete Helena halbtags als Assistenzärztin auf der Inneren am Danderyds Sjukhus. Sie war noch keine Fachärztin, obwohl sie schon gut über vierzig war. Sie sah, wie ihre Kollegen und ihre Kommilitonen von früher karrieremäßig an ihr vorbeizogen. Sie schrieben ihre Doktorarbeiten und wurden zu Dozenten oder Professoren ernannt oder auch einfach nur Oberärzte. Helena blieb gelassen. Sie wusste, dass sie immer als Ärztin würde arbeiten können. Sobald sie es wünschte, konnte sie eine volle Stelle bekommen. Als Musikerin hatte sie ohnehin nur noch zehn oder fünfzehn Jahre vor sich.
Sie hatte die Machtstruktur im gewohnten Quartett akzeptiert und wusste genau, wo ihr Platz war. Jetzt würde sie zum ersten Mal mit Raoul Liebeskind spielen. Dieser Gedanke machte ihr Angst. Raoul Liebeskind hatte etwa fünfzig Platten aufgenommen und international Karriere gemacht. Seit einigen Jahren war er Professor für Kammermusik an der renommierten Juilliard School of Music. Sie fragte sich, ob er sich überhaupt Gedanken darüber machte, dass sie ein paar Tage als Kollegen arbeiten würden. Sex mit ihm war eine Sache, da gab sie ihr Künstlertum nicht preis, zumindest nicht auf diese Weise. Als Musiker hatten sie nie miteinander zu tun gehabt. Sie hatten zwar hin und wieder über Konzerte geredet, an denen er arbeitete, und bei diesen Gelegenheiten hatte sie natürlich ihre Meinung geäußert, aber über ihre Rolle als Bratschistin sprachen sie nie. Die Diskrepanz zwischen ihren technischen und künstlerischen Niveaus war geradezu lachhaft groß. Im Vergleich zu Raoul war sie eine Amateurin. Nicht die Beste zu sein war immer eine Niederlage für sie.
In ihrer Beziehung zu Raoul hatte sie zwei Waffen besessen. Die eine war seine plötzliche Sehnsucht nach ihr gewesen. Manchmal konnte er einfach nicht ohne sie sein, und es war vorgekommen, dass sie kurzfristig zu einem seiner Konzerte um den halben Globus geflogen war, nur damit er sie zwischen den Proben ganz für sich haben konnte. Er bezahlte immer ihre Tickets und Spesen, und sie nannte ihrer Familie und der Klinik irgendeine Tagung als Alibi. Dann wohnte sie mehr oder weniger im Bett in Raouls Hotelzimmer und wartete, während er arbeitete. Sie suchten sich entlegene Restaurants und vermieden es, gemeinsam gesehen zu werden.
Ihre andere Stärke war ihr Intellekt. Sie besaß eine ganz andere Bildung als Raoul, der nicht einmal das Gymnasium besucht hatte. Ihr war klar, dass ihn ihre Intelligenz sowohl störte als auch reizte. Wenn sie sich behaupten wollte, war es immer ihre Intelligenz, die ihr Sicherheit und Macht verlieh. Aber das war damals gewesen, vor dem katastrophalen Treffen in New York.
Jetzt graute ihr vor der beklemmenden Situation, die mit Sicherheit entstehen würde, wenn er gezwungen war, sie beruflich zurechtzuweisen. Wie würde er reagieren, falls sie falsch spielte? Würde er so tun, als sei nichts, und sie vielleicht nach der Probe beiseitenehmen, gutmütig und humorvoll auf das eine oder andere Detail hinweisen und es dabei bewenden lassen, oder würde er sie vor allen anderen ausschimpfen? Wie peinlich es sein würde, wenn er ein Tempo vorgab, bei dem sie nicht mithalten konnte.
Das Studio lag unter der großen Westterrasse. Zum Meer hin war die Wand ganz verglast, und es bot sich eine wunderbare Aussicht auf die grauen Wogen. Der Himmel hatte sich bewölkt, kleine Regentropfen trafen auf die Scheiben und flossen lautlos in unregelmäßigen Streifen an ihnen herunter. In der Mitte des Saals saß Caroline und spielte. Ihre Linke flog in rasendem Tempo über das Griffbrett. Der Bogen schlug gegen die Saiten und prallte von ihnen ab. Ihre dunklen Locken tanzten in einem eigenen Rhythmus um ihr Gesicht, und jede Phrase wurde von einem hörbaren Atemzug aus ihrem halb geöffneten Mund begleitet. Helena betrat als Letzte das Studio. Ihr fiel auf, dass Raoul ein paar Sekunden zu lange stehen geblieben war, um ihre Schwester zu betrachten. Einen Moment kniff er die Augen zusammen, bevor er seinen Geigenkasten auf einen Tisch legte und die Schlösser aufschnappen ließ. Dann überprüfte er mit drei vehementen Bogenstrichen, die Carolines ausdrucksvolles Musizieren zerschnitten, das Instrument. Caroline hörte sofort zu spielen auf und starrte mit zusammengepressten Lippen an die Decke. Ihre schweren Atemzüge hoben und senkten ihre Schultern.
»W ie schön das klingt. Jetzt fangen wir an«, beschwichtigte Louise, trat auf Caroline zu und legte ihr die
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