Der kleine Bruder: Der kleine Bruder
»Die zieht dann hier ein, und dann kommt das Kind und so weiter und so fort!« Er wedelte mit den Händen, wie um »und so weiter und so fort« angemessen zu illustrieren.
»Na herzlichen Glückwunsch auch, Erwin!« sagte Karl und lachte. Er hörte gar nicht mehr auf. »Super, Erwin! Glück und Segen auf allen Wegen«, stieß er hervor und krümmte sich dabei.
»Ist mir scheißegal, wie du das findest«, sagte Erwin.
»Ich dachte, ihr seid nicht mehr zusammen«, sagte Chrissie. »Wie kann die dann schwanger sein.«
»Sei du doch mal still, was hast du denn damit zu tun?!«
»Na immerhin wohne ich auch hier!«
»Wieso das denn?« rief Erwin. »Seit wann wohnst du hier? Ich dachte, du bist nur während der Ferien zu Besuch. Das hast du doch gesagt!«
»Ferien, Ferien, im November sind doch keine Ferien!« sagte Chrissie.
»Hast du aber gesagt!«
»Naja, irgendwie schon. Aber Ferien sind keine«, sagte Chrissie. »Ich dachte, ich könnte noch ein bißchen bleiben. Aber Helga, du liebe Güte!«
»Das ist aber alles schon geregelt!« sagte Erwin. »Ich hab schon was Neues für euch. Jedenfalls ist Helga
schwanger und zieht hier ein, das muß alles vorher noch umgebaut werden, und diskutieren tu ich darüber nicht. Und mit wem ich zusammen bin, das geht dich gar nichts an, Chrissie. Ich ruf nachher erstmal Susi an, das hätte ich schon lange machen sollen, bist du von zu Hause abgehauen oder was?!«
»Puh, Erwin!« Karl hob seine Flasche wieder. »Tut mir leid, ich hätte nicht so blöd lachen sollen, herzlichen Glückwunsch, ehrlich.« Er trank einen Schluck, mußte wieder lachen und spuckte das Bier über den Tisch. »Entschuldigung, Leute, ich bin heute ein bißchen albern.«
Erwin sagte nichts. Er sah plötzlich sehr müde aus.
»Bin ich dann Tante?« sagte Chrissie.
»Hä?« sagte Erwin.
»Bin ich dann die Tante von dem Kind?«
»Nein, du bist die Cousine, blöde Kuh! Und morgen fährst du nach Hause.«
»Ich bin volljährig, Onkel Erwin, du kannst mich nicht einfach nach Hause schicken, ich kann sein, wo ich will.«
»Du bist siebzehn!«
»Nein, achtzehn!«
»Siebzehn! «
»Achtzehn!«
»Du bist 63 geboren, da kannst du noch gar nicht achtzehn sein.«
»62!«
»Dann setz ich dich auf die Straße! Und hör mit dem Onkel scheiß auf, für dich bin ich Erwin und sonst gar nichts. Dann setz ich dich auf die Straße, dann wirst du schon von selbst wieder nach Hause fahren.«
»Dann guck ich, daß ich irgendwo in einem besetzten Haus unterkomme!«
»Hm«, sagte Karl und machte sich ein neues Bier auf,
»bei euch klappt der Dialog der Generationen ja schon ganz gut, Erwin. Wenn du als Vater so begabt bist wie als Onkel, dann kann die Welt ruhig schlafen.«
Erwin sagte gar nichts mehr. Er starrte nur auf die Bierflasche, die noch unangebrochen vor ihm stand.
Ftank tat er irgendwie ziemlich leid. »Nun hört doch mal auf, alle über ihn herzuziehen«, hörte er sich sagen, obwohl er sich gerade vorgenommen hatte, hier erstmal die weitere Entwicklung abzuwarten und sich rauszuhalten. Man kann aber nicht immer nur die weitere Entwicklung abwarten, dachte er in diesem Moment, man muß auch mal die Initiative ergreifen, zuschlagen, den Feind überraschen - obwohl ihm hier überhaupt nicht klar war, wer eigentlich der Feind war, ich denke zu militärisch, dachte er, man muß auch einfach so mal was für seine Mitmenschen tun. »Er hat doch völlig recht«, sagte er. »Wenn das seine Wohnung ist und er die für Frau und Kinder braucht …«
»Jetzt sind es schon mehrere, hört, hört!« riefKarl spöttisch, aber Frank ließ sich nicht unterbrechen.
»… für Frau und Kinder braucht«, wiederholte er umso lauter, »dann kann man nichts machen.«
Daraufhin schwiegen alle, und Frank mochte nicht entscheiden, ob das ein betretenes oder ein peinlich berührtes Schweigen war. Es dauerte jedenfalls eine ganze Weile. Frank rauchte derweil erst einmal die Zigarette zu Ende. Irgendwas ist da dran an der Sache mit dem Nikotin, dachte er, und dann dachte er: Das war ein verdammt langer Tag. Und dann trank er das Bier aus und nahm sich ein neues, hier muß man sich ranhalten, es sind ja nur sechs Flaschen da, dachte er.
Dann sagte endlich Erwin etwas, nachdem er sich ausführlich geräuspert hatte. »Ihr könnt ab morgen abend in die Wohnung überm Einfall rein!«
»Soso…«, sagte Karl. »Was heißt denn das praktisch?«
»Was soll das schon praktisch heißen?! Ist doch klar, was das heißt: Ab
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