Der kleine Bruder: Der kleine Bruder
Wittenbergplatz verließ er die V-Bahn, lief die Treppen hinauf und fragte die Frau in dem Kiosk, an dem er sich eine Schachtel Zigaretten kaufte, nach der Haltestelle für den 1ger Bus zum Kudamm, genau so wie Karl es ihm geraten hatte, “geh zum Kiosk, wenn du was fragen willst, frag bloß nicht jemanden, der da frei rumläuft, das sind alles Touristen da am Wittenbergplatz, sowieso am Kudamm, das ist alles Touristenscheiße, und frag vor allem keinen von der BVG, die versauen dir gleich den ganzen Tag«, hatte Karl gesagt, und Frank tat genau so wie von Karl empfohlen, er hatte es eilig und keine Zeit für Experimente, es gibt Situationen, dachte er, da muß man auch mal auf die Einheimischen hören, und das tat er und fragte die Frau vom Kiosk, und kurz darauf stand er dann auch rauchend an der Haltestelle der Linie 19 Richtung Roseneck und wartete auf den Bus. Der kam bald, und Frank stieg wie alle anderen vorne ein, zeigte wie alle anderen seinen Fahrschein vor und ging gleich nach hinten zum Ausgang, wo er stehen und die Lage peilen konnte, er war viel zu nervös und aufgepeitscht, um sich jetzt noch irgendwo hinzusetzen, und vom Kudamm sah er auf der Fahrt auch nicht viel, das interessierte ihn jetzt nicht, es dämmerte auch schon wieder und alles, was er überhaupt sehen konnte, war grau und schmurzig, ein paar Autos, ein bißchen vom Bürgersteig, Leute, Lichter, er hatte keinen Sinn für den ganzen Kram, das war nicht mehr der leuchtende, glitzernde Tunnel, als der ihm der Kudamm damals, als er aus dem Dunkel der Transitstrecke gekommen war, erschienen war, das war bloß die Straße, an der das Hotel lag, in dem Freddie war, und er mußte sich ohnehin auf die genuschelten Ansagen des Fahrers konzentrieren und zur Sicherheit auch noch ihr Vorankommen auf dem Buslinienplan verfolgen, und als er davon ausgehen konnte, daß die nächste Haltestelle die Schlüterstraße sein würde, fragte er zur Sicherheit auch noch eine Frau, die sich neben ihm mühsam an eine Haltestange klammerte, aber die zuckte nur mit den Schultern. Er stieg trotzdem aus und stand tatsächlich an der Ecke Kudamm und Schlüterstraße. Das ging ja schon mal ganz gut, dachte er.
Das Hotel war ein Stück weiter am Kudamm in einem Neubau untergebracht. Frank mußte an einer verschlossenen Glastür klingeln und einige Zeit warten, bis ein Mann mittleren Alters kam, sich hinter einen kleinen Rezeptionsschalter zwängte und einen Summer drückte, der die Tür öffnete.
»Ich möchte gerne zu Manfred Lehmann«, sagte Frank. »Der wohnt hier gerade, heißt es.«
»Ja«, sagte der Mann, »das kann schon sein, aber das ist kein normales Hotel, wir sind komplett an die Firma Se-cumedic vermietet, und da gibt es feste Besuchszeiten.«
»Ja und?«
»Die Besuchszeit geht von drei bis vier«, sagte der Mann und schaute auf seine Uhr, »jetzt ist die schon vorbei, da können Sie den nicht mehr besuchen. Da müssen Sie schon morgen wiederkommen.«
»Das ist mein Bruder«, sagte Frank. »Manfred Lehmann. Ich will den sehen. Und nicht erst morgen.«
»Tja, das tut mir leid, das geht leider nicht.«
»Sind Sie vom Hotel oder von der Firma Secumedic?«
»Ich bin vom Hotel. Aber die Firma Secumedic hat hier ganz klare …«
»Dann holen Sie jetzt bitte jemanden von dieser Firma, aber einen, der was zu sagen hat.«
»Ich mache gar nichts. Warum sollte ich das tun?«
»Weil ich hier nicht weggehe, bevor ich nicht mit einem von der Firma gesprochen habe.«
Der Mann schwieg und sah Frank an. Frank sah zurück und schwieg ebenfalls.
»Was soll das?« sagte der Mann schließlich.
»Das werde ich dem dann schon erklären«, sagte Frank.
»Ich weiß gar nicht, wer da jetzt gerade von denen hier ist«, sagte der Mann.
»Ich auch nicht«, sagte Frank. »Aber Sie werden schon jemanden finden!«
Der Mann griff zu einem Telefon und wählte eine kurze Nummer. »Könnten Sie bitte mal kommen, ich habe hier jemanden, der Sie sprechen will«, sagte er in die Leitung. »Ja, nein, aber das wäre schon besser, wenn Sie mal eben kommen könnten.« Er legte auf und sah Frank an. »Ich will keinen Ärger«, sagte er.
»Ich auch nicht«, sagte Frank. »Ich will bloß meinen Bruder sehen.«
Zwei Minuten später kam ein Mann, der trug einen weißen Kittel, und aus seiner Brusttasche schaute ein Stethoskop heraus, das kam Frank irgendwie albern und klischeehaft vor, aber er konnte sich jetzt unmöglich mit ästhetischen Problemen befassen, sollen die sich doch alle
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