Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Abneigung gegen einträgliche Arbeit waren, das fanden alle, durch diese früh erlebte Katastrophe vollständig erklärbar.
Man spekulierte viel darüber, wie bitter peinlich Pems Vater sein ältester Sohn sein musste, denn er war der Direktor der Alexandria Academy, und junge Menschen zu disziplinieren
war sein Beruf. Mr. Hull war kein brüllender Ex-Sportler mit rotem Gesicht, wie er an Privatschulen für gewöhnlich anzutreffen war, er war nicht einmal ein Coach. Er unterrichtete Naturwissenschaften für die Schüler der Junior High School, und die übrige Zeit verbrachte er bei geschlossener Tür in seinem Büro und las Bücher über Luftfahrttechnik. Aber auch wenn Mr. Hull die Schule fest im Griff hatte und die Schüler in Angst und Schrecken vor seinem Schweigen lebten, untergrub seine Frau zu Hause seine Autorität. Er hatte alle Mühe, sich bei seinen eigenen Söhnen durchzusetzen – besonders bei Pemberton, der immer witzelte und feixte und hinter dem Kopf seines Vaters Kaninchenohren machte, wenn Gruppenfotos aufgenommen werden sollten. Eltern hatten großes Mitgefühl mit Mr. Hull, auch wenn es alle anderen Anwesenden nervös machte, wie vernichtend er Pemberton bei öffentlichen Anlässen ankläffte. Pem selbst schien es nicht das Geringste auszumachen, und er hörte nicht auf mit seinen lässigen Witzeleien und superschlauen Bemerkungen.
Aber auch wenn Martha Hull nichts dagegen hatte, dass ihre Söhne sich überall in der Stadt herumtrieben, sich die Haare bis über die Schultern wachsen ließen, zum Mittagessen Wein tranken oder zum Frühstück Desserts aßen, gab es im Hause Hull doch ein paar unumstößliche Regeln. Obwohl Pemberton zwanzig war, durfte er in Gegenwart seiner Mutter nicht rauchen, und Hely durfte es natürlich überhaupt nicht. Laute Rock ’n’ Roll-Musik auf der Stereoanlage war verboten (obwohl Pemberton und seine Freunde, sobald die Eltern aus dem Haus waren, die ganze Nachbarschaft mit The Who und den Rolling Stones bedröhnten – was bei Charlotte zu Verwirrung, bei Mrs. Fountain zu Beschwerden und bei Edie zu vulkanhaften Wutausbrüchen führte). Weder Vater noch Mutter konnten Pemberton daran hindern zu gehen, wohin er wollte, aber Hely durfte unter keinen Umständen nach Pine Hill (einem üblen Stadtteil mit Pfandleihen und Jukebox-Läden) und in die Billardhalle.
Und genau in dieser Billardhalle fand Hely, der immer noch wegen Harriet schmollte, sich jetzt wieder. Er hatte sein Fahrrad ein Stück weiter unten an der Straße abgestellt, im Durchgang
neben der City Hall, für den Fall, dass seine Mutter oder sein Vater vorüberfuhren. Mürrisch knirschte er auf seinen Barbecue-Kartoffelchips rum, die neben Zigaretten und Kaugummi an der verstaubten Theke verkauft wurden, und stöberte in den Comic-Heften im Ständer neben der Tür.
Die Pool Hall war zwar nur eine oder zwei Straßen weit vom Stadtzentrum entfernt und hatte keine Alkohollizenz, aber sie war trotzdem der härteste Laden in Alexandria, schlimmer noch als das »Black Door« oder die »Esquire Lounge« drüben in Pine Hill. Es hieß, dass in der Billardhalle mit Drogen gehandelt werde, Glücksspiel grassierte hier, und sie war der Schauplatz zahlloser Schießereien, Messerstechereien und rätselhafter Brände. Die Hohlblockwände waren knastgrün gestrichen, und flackernde Leuchtstoffröhren an der styroporverkleideten Decke verbreiteten ein trübes Licht. Von den sechs Tischen waren an diesem Nachmittag nur zwei in Gebrauch, und von hinten kamen die gedämpften Geräusche eines Flippers, an dem zwei Country-Typen mit glatt zurückgekämmten Haaren und Druckknopf-Jeanshemden spielten.
Zwar kam die schimmelige, heruntergekommene Atmosphäre der Billardhalle dem Gefühl der Verzweiflung entgegen, das Hely empfand, aber er konnte nicht Pool spielen, und er traute sich nicht, bei den Tischen herumzulungern und zuzusehen. Dennoch war es belebend, einfach nur unbemerkt an der Tür zu stehen, Barbecue-Chips zu mampfen und das gefährliche Ozon der Verkommenheit zu atmen.
Was Hely in die Pool Hall lockte, waren die Comics. Hier hatten sie die beste Auswahl in der Stadt. Im Drugstore gab es Richie Rich , und im »Big Star«-Supermarkt hatten sie auch noch Superman (auf einem Ständer in ungemütlicher Nähe des Hähnchengrills, sodass Hely dort nicht allzu lange stöbern konnte, ohne sich gründlich den Arsch zu braten). Aber in der Pool Hall gab es Sergeant Rock und G.I. Combat (echte Soldaten, die echte
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