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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Schlangen, gesetzlich verboten war?
    Loyal schien das alles nicht zu kümmern. »Ich bin hier, um Gottes Werk zu tun«, hatte er gesagt. »Und Gottes Werk ist der Kampf gegen den Tod.« Am Abend zuvor hatte ihm auch das Gejohle der Leute nichts ausgemacht, aber obwohl Eugene Angst vor den Schlangen hatte und wusste, dass er selbst außerstande wäre, sie mit eigenen Händen aufzuheben, freute er sich doch nicht auf einen weiteren Abend der öffentlichen Demütigungen.
    Sie standen draußen auf der beleuchteten Betonplatte, die sie als »Carport« bezeichneten; an einem Ende befand sich ein Gasgrill, am andern ein Basketballkorb. Eugene warf einen nervösen Blick auf Loyals Truck – auf die Plane über den Schlangenkisten auf der Ladefläche, auf den Sticker an der Stoßstange, auf dem in schrägen, fanatischen Lettern stand: DIESE WELT IST NICHT MEINE HEIMAT! Curtis saß wohl verwahrt im Trailer vor dem Fernseher (wenn er sähe, wie sie wegfuhren, würde er heulen und mitkommen wollen), und Eugene wollte eben vorschlagen, rasch einzusteigen und loszufahren, als die Fliegentür sich knarrend öffnete und Gum auf sie zu geschlurft kam.
    »Hallo, Ma’am!«, rief Loyal herzlich.
    Eugene wandte sich halb ab. In letzter Zeit hatte er mit einem beständigen Hass auf seine Großmutter zu kämpfen und musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass Gum doch nur eine alte Lady war – und krank noch dazu, seit Jahren krank. Er erinnerte sich an den Tag vor langer Zeit, als er und Farish noch klein gewesen waren und sein Vater mitten am Nachmittag betrunken nach Hause gestolpert gekommen war. Er hatte sie aus dem Trailer gezerrt, als wolle er sie verprügeln, puterrot im Gesicht und mit zusammengebissenen Zähnen. Aber er war nicht wütend. Er weinte. O Herr, mir ist übel, seit ich es gehört hab heute Morgen. Herrgott, erbarme dich. Die arme Gum wird nur noch einen oder zwei Monate bei uns sein. Die Ärzte sagen, sie ist zerfressen bis auf die Knochen vom Krebs.
    Das war zwanzig Jahre her. Seitdem waren noch vier Brüder zur Welt gekommen und allesamt groß geworden: herangewachsen und aufgewachsen und weggegangen, verkrüppelt oder im Gefängnis. Vater und Onkel und Mutter und eine tot geborene kleine Schwester waren allesamt unter der Erde. Aber Gum war quicklebendig. Von diversen Ärzten und Gesundheitsbehörden flatterten regelmäßig Todesurteile über sie ins Haus, Eugenes ganze Kindheit und Jugend hindurch, und noch heute bekam Gum ungefähr alle sechs Monate eins. Jetzt, da ihr Sohn tot war, verkündete sie die schlechte Nachricht selbst, in vergebungheischendem Ton. Ihre Milz sei vergrößert und drohe zu platzen; ihre Leber, ihre Bauchspeicheldrüse, ihre Schilddrüse seien ausgefallen; sie sei zerfressen von diesem Krebs oder von jenem Krebs, von so vielen verschiedenen Arten, dass ihre Knochen inzwischen schwarz wie Holzkohle seien, wie die verkohlten Hühnerknochen im Herdfeuer. Und tatsächlich: Gum sah zerfressen aus. Weil er sie nicht umbringen konnte, hatte der Krebs sich in ihr eingerichtet und sich ein behagliches Zuhause geschaffen – hatte sich hinter ihren Rippen eingenistet und feste Wurzeln geschlagen, und er bohrte die Spitzen seiner Tentakel durch ihre Haut nach außen, sichtbar in einem Gesprenkel von schwarzen Muttermalen. Wenn man Gum jetzt aufschnitte (so kam es Eugene vor), würde wahrscheinlich gar kein Blut mehr in ihr sein, sondern nur noch ein giftiger, schwammiger Brei.
    »Ma’am, wenn Sie die Frage gestatten«, sagte Loyal höflich, »wie kommt’s, dass Ihre Jungen Sie Gum nennen?«
    »Weiß keiner. Der Name ist einfach kleben geblieben«, kicherte Farish, der gerade aus der Tür seines Taxidermieschuppens platzte, begleitet von einem Strahl von elektrischem Licht auf dem Riedgras. Er stürmte hinter ihr heran, umarmte und kitzelte sie, als wären sie ein Liebespaar. »Soll ich dich zu den Schlangen auf den Laster werfen, Gum?«
    »Hör auf«, sagte Gum lustlos. Sie fand es unwürdig, sich anmerken zu lassen, wie gut ihr diese raubeinigen Aufmerksamkeiten gefielen, aber sie gefielen ihr nichtsdestominder; ihr
Gesicht blieb ausdruckslos, aber ihre schwarzen Äuglein funkelten vor Vergnügen.
    Eugenes Besucher spähte argwöhnisch durch die offeneTür des fensterlosen Taxidermie/Methamphetamin-Schuppens, der vom Licht einer nackten Glühbirne unter der Decke durchflutet war: Bechergläser, Kupferrohre, ein unglaublich komplexes, zusammengestückeltes Gewirr von Vakuumpumpen und

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