Der kleine Freund: Roman (German Edition)
mutmaßte
der Lastwagenfahrer – ein kurzbeiniger kleiner Bursche mit einem breiten, roten, fröhlichen Gesicht – während Dr. Breedlove in seinem Lehrbuch zur Inneren Medizin nach dem Kapitel über giftige Reptilien suchte. »Kommen von Texas raufgekrochen und werden hier wild.«
»Wenn es stimmt, was Sie sagen«, meinte Dr. Breedlove, »dann kommt sie von sehr viel weiter her als bloß aus Texas.«
Dr. Breedlove kannte Mrs. Ratliff aus seinen Jahren in der Notaufnahme, wo sie häufig zu Gast gewesen war. Einer der jüngeren Sanitäter hatte sie ganz passabel nachahmen können: wie sie die Hände in die Brust krallte und ihren Enkeln keuchend letzte Anweisungen erteilte, während sie zum Krankenwagen wankte. Die Geschichte von der Kobra klang wie ein Haufen Blödsinn, aber die Symptome der alten Frau passten tatsächlich, so unglaublich es erschien, zu einem Kobrabiss und überhaupt nicht zum Biss irgendeines einheimischen Reptils. Ihre Augenlider hingen herab, ihr Blutdruck war niedrig, sie klagte über Schmerzen in der Brust und Atembeschwerden. Die Bisswunde wies keine spektakuläre Schwellung auf wie bei einem Klapperschlangenbiss. Anscheinend hatte das Tier nicht sehr tief zugebissen; das Schulterpolster ihres Hosenanzugs hatte verhindert, dass die Zähne allzu weit in die Schulter eindrangen.
Dr. Breedlove wusch sich die großen, rosigen Hände und ging hinaus, um mit der Gruppe der Enkel zu sprechen, die missmutig vor der Intensivstation standen.
»Sie zeigt neurotoxische Symptome«, erklärte er. »Ptosis, Atembeschwerden, fallender Blutdruck, Abwesenheit eines lokal begrenzten Ödems. Wir beobachten sie aufmerksam, denn vielleicht müssen wir sie intubieren und beatmen.«
Die erschrockenen Enkel starrten ihn misstrauisch an, während das schwachsinnig aussehende Kind Dr. Breedlove enthusiastisch zuwinkte. »Hi!«, sagte der Junge.
Die Art, wie Farish vortrat, machte deutlich, dass er hier das Sagen hatte.
»Wo ist sie?« Er drängte sich an dem Arzt vorbei. »Ich will mit ihr sprechen.«
»Sir, Sir. Das ist leider unmöglich. Sir? Ich muss Sie bitten, sofort wieder auf den Flur zurückzukommen.«
»Wo ist sie?« Farish stand ratlos in dem Gewirr von Schläuchen und Maschinen und piepsenden Geräten.
Dr. Breedlove baute sich vor ihm auf. »Sir, sie liegt ruhig und bequem da.« Fachmännisch und mit der Hilfe zweier Pfleger bugsierte er Farish wieder hinaus auf den Flur. »Man darf sie jetzt nicht stören. Im Moment können Sie nichts für sie tun. Sehen Sie, da vorn ist ein Warteraum, wo Sie sich hinsetzen können. Dort .«
Farish schüttelte seine Hand ab. »Was tut ihr denn für sie?«, fragte er, als ob es, was immer es sei, nicht genüge.
Dr. Breedlove wiederholte seinen geschmeidigen Vortrag über Herz-Atmungsmonitor und Ptosis und die Abwesenheit eines lokal begrenzten Ödems. Was er nicht erwähnte, war, dass das Krankenhaus kein Kobra-Antitoxin hatte und auch keines bekommen konnte. Die letzten paar Minuten mit dem Lehrbuch zur Inneren Medizin hatten Dr. Breedlove in einem nicht unbeträchtlichen Umfang über ein Gebiet unterrichtet, das im Medizinstudium nicht behandelt worden war. Bei Kobrabissen half nur das spezifische Serum. Aber nur die allergrößten Zoos und Kliniken waren damit ausgestattet, und es musste innerhalb weniger Stunden verabreicht werden, sonst blieb es wirkungslos. Also war die alte Lady auf sich selbst gestellt. Kobrabisse, so stand es im Lehrbuch, waren in zehn bis fünfzig Prozent der Fälle tödlich. Das war eine breite Spanne, zumal da die Zahlen nicht spezifizierten, ob die Überlebensquote auf behandelten oder unbehandelten Bissen basierte. Außerdem war sie alt, und neben dem Schlangenbiss gab es noch schrecklich viele andere Dinge bei ihr, die nicht in Ordnung waren. Ihre Akte war fingerdick. Und wenn man ihn zwänge zu sagen, wie groß ihre Chancen waren, die kommende Nacht – oder auch nur die nächste Stunde – zu überleben, so hätte Dr. Breedlove nicht die leiseste Ahnung gehabt, welche Prognose er riskieren konnte.
Harriet legte den Telefonhörer auf, ging die Treppe hinauf und betrat, ohne anzuklopfen, das Zimmer ihrer Mutter. Dort stellte sie sich an das Fußende des Bettes. »Morgen fahre ich ins Camp Lake de Selby«, gab sie bekannt.
Harriets Mutter blickte von ihrer Ehemaligenzeitschrift auf. Halb dösend hatte sie das Profil einer früheren Klassenkameradin betrachtet, die irgendeinen komplizierten Job auf dem Capitol Hill hatte,
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