Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Mrs. Whitfield sah, dass Harriet sie anfunkelte, und lächelte, aber Harriet wandte sich ab und starrte mit roten, in Tränen schwimmenden Augen auf den Teppich. Seit der Heimfahrt aus dem Camp hatte sie so viel geweint, dass sie sich wie betäubt fühlte. Ihr war übel, und sie konnte kaum schlucken. Als sie in der Nacht
zuvor endlich eingeschlafen war, hatte sie von Insekten geträumt, von einem wütenden, schwarzen Schwarm, der aus dem Herd in ein Haus geströmt war.
»Zu wem gehört dieses Kind?«, fragte die glattgesichtige Frau Mrs. Whitfield in weithin hörbarem Flüsterton.
»Ah«, sagte Mrs. Whitfield und senkte die Stimme. Im Halbdunkel spritzte und blinkte das Licht der Laternen durch Harriets Tränen, alles versank jetzt im Dunst, alles zerschmolz. Ein Teil ihrer selbst – kalt und wütend – stand abseits und machte sich über sie lustig, weil sie weinte, während die Kerzenflammen sich auflösten und zu bösartigen Prismen zersprangen.
Das Bestattungsinstitut in der Main Street, nicht weit von der Baptistenkirche, befand sich in einem hohen viktorianischen Haus, das von Türmchen und stachligen Eisenschnörkeln strotzte. Wie oft war Harriet mit dem Fahrrad hier vorbeigefahren und hatte sich gefragt, was wohl vorging da oben in diesen Türmchen, unter den Kuppeldächern, hinter den verhangenen Fenstern? Gelegentlich – abends, wenn jemand gestorben war – flackerte ein mysteriöses Licht hinter dem bunten Glasfenster im höchsten der Türmchen, ein Licht, das sie an einen Artikel über Mumien erinnerte, den sie in einem alten National Geographie gesehen hatte. Einbalsamierende Priester mühten sich bis tief in die Nacht hinein, hatte unter dem Bild gestanden, um ihre Pharaonen für die Lange Reise in die Unterwelt bereitzumachen. Wann immer das Licht im Turm brannte, lief es Harriet eisig den Rücken hinunter, und sie trat ein bisschen kräftiger in die Pedale, um nach Hause zu kommen. Im Winter, wenn es früh dunkel wurde und sie von der Chorprobe nach Hause fuhr, zog sie den Mantel fester um sich und rutschte auf dem Rücksitz von Edies Wagen ein bisschen tiefer.
Ding dong, die Glocke klingt,
sangen die Mädchen beim Seilspringen auf dem Rasen vor der Kirche nach dem Chor,
Sagt meiner Mutter noch einen Gruß,
Denn auf dem Schindanger ich liegen muss,
Wohl neben meinem Bruder.
Was immer für nächtliche Rituale dort oben stattfinden mochten, was immer man dort, aufschlitzend und ausblutend und ausstopfend, mit lieben Menschen anstellen mochte, das Erdgeschoss war in beruhigender viktorianischer Gruseligkeit versunken. Die Salons und Empfangsräume waren weitläufig, prunkvoll und schattendunkel; der Teppich war dick und rostig braun, und die Möbel (gedrechselte Stühle und altmodische Sessel) waren trist und steif. Eine samtene Kordel am Fuße der Treppe versperrte den Treppenaufgang, wo ein roter Teppich stufenweise in der Dunkelheit eines Horrorfilms verschwand.
Der Bestatter war ein freundlicher kleiner Mann namens Mr. Makepeace. Er hatte lange Arme und eine lange, schmale, zierliche Nase, und infolge einer Polioerkrankung zog er ein Bein nach. Er war fröhlich und redselig und trotz seines Berufes beliebt. Auf der anderen Seite des Raumes hinkte er von einer plaudernden Gruppe zur nächsten, ein deformierter Würdenträger, der Hände schüttelte, stets lächelte, stets willkommen war. Die Leute traten beiseite und nahmen ihn sittsam in ihre Gesprächsrunden auf. Seine unverwechselbare Silhouette, der Winkel, in dem er das Bein nachzog, und seine Gewohnheit, dann und wann seinen Oberschenkel mit beiden Händen zu umfassen und das lahme Bein vorwärts zu reißen, wenn es stecken blieb, all das ließ Harriet an ein Bild denken, das sie einmal in einem von Helys Horror-Comics gesehen hatte: ein buckliger Butler in einem Herrenhaus, der sein Bein gewaltsam, mit beiden Händen dem Zugriff eines skeletthaften Dämons entriss, der ihn von unten zu packen suchte.
Den ganzen Morgen hatte Edie davon gesprochen, was für »gute Arbeit« Mr. Makepeace geleistet habe. Sie hatte sich durchsetzen und eine Totenfeier mit offenem Sarg haben wollen, obwohl Libby ihr Leben lang immer wieder eindringlich wiederholt hatte, dass sie ihren Leichnam nicht ausgestellt
haben wollte. Zu Lebzeiten hatte Edie über solche Befürchtungen gespottet, und nach Libbys Tod hatte sie sich über ihre Wünsche hinweggesetzt und Sarg und Kleidung mit Blick auf die Zurschaustellung ausgewählt: weil die Verwandten von
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