Der kleine Freund: Roman (German Edition)
außerhalb es erwarten würden, weil es so Brauch war, weil man es einfach so machte. Aber heute Morgen hatten Adelaide und Tatty im hinteren Raum des Bestattungsinstituts einen derartig hysterischen Wirbel gemacht, dass Edie sie schließlich angefaucht hatte: »Oh, in Gottes Namen!«, und dann hatte sie Mr. Makepeace angewiesen, den Deckel zu schließen.
Unter dem starken Duft der Lilien nahm Harriet noch einen anderen Geruch war. Es war ein chemischer Geruch wie von Mottenkugeln, nur noch ekliger: Einbalsamierungsflüssigkeit? Aber es tat nicht gut, über solche Dinge nachzudenken. Am besten, sie dachte überhaupt nicht. Libby hatte Harriet nie erklärt, warum sie so entschieden gegen einen offenen Sarg war, aber Harriet hatte einmal gehört, wie Tatty jemandem erzählt hatte, dass damals, als sie noch klein waren, »diese Bestatter auf dem Lande schon sehr schlechte Arbeit gemacht haben. Damals, bevor es elektrische Kühlräume gab. Unsere Mutter ist im Sommer gestorben, wissen Sie«.
Edie stand immer noch an ihrem Platz neben dem Kondolenzbuch, und ihre Stimme erhob sich für einen Augenblick klar und deutlich über die andern. »Na, dann kannten diese Leute Daddy eben nicht. Er hat sich mit so etwas niemals abgegeben.«
Weiße Handschuhe. Diskretes Murmeln, wie bei einem Meeting der »Töchter der Amerikanischen Revolution«. Die muffige, stickige Luft verklebte Harriets Lunge. Tatty hatte die Arme verschränkt und sprach mit einem winzigen kleinen Glatzkopf, den Harriet nicht kannte, und obwohl sie dunkle Ringe unter den Augen hatte und keinen Lippenstift trug, benahm sie sich merkwürdig geschäftsmäßig und kühl. »Nein«, sie schüttelte den Kopf, »nein, es war der alte Mr. Holt le Fevre, der Daddy diesen Spitznamen gab, als die beiden noch klein waren. Mr. Holt spazierte mit seiner Zofe die Straße hinunter und riss sich los und sprang Daddy an, und Daddy hat sich natürlich
gewehrt, und Mr. Holt, der dreimal so groß war wie Daddy, fing an zu weinen: ›Du bist ein alter Schubser!‹«
»Ich habe oft gehört, wie mein Vater den Richter so genannt hat. Schubser.«
»Na, aber es war eigentlich kein Spitzname, der zu Daddy gepasst hätte. Er war kein besonders kräftiger Mann, auch wenn er in den letzten Jahren ein bisschen zugenommen hat. Wegen der Phlebitis und mit seinen geschwollenen Knöcheln war er nicht mehr so beweglich wie früher.«
Harriet biss sich innen auf die Wange.
»Als Mr. Holt nicht mehr bei Sinnen war«, sagte Tat, »zum Ende hin, da hat Violet mir erzählt, dass er ab und zu noch einmal einen klaren Kopf bekam und fragte: ›Wo wohl der alte Schubser steckt? Ich hab den alten Schubser seit einer Weile nicht mehr gesehen.‹ Da war Daddy natürlich schon seit Jahren tot. Einmal nachmittags, da hielt er sich so lange damit auf, sich den Kopf zu zerbrechen über Daddy, und warum er so lange nicht mehr da gewesen war, dass Violet schließlich zu ihm sagte: ›Der Schubser war hier, Holt, und er wollte dich besuchen. Aber du hast geschlafen.‹«
»Ach, der Gute«, sagte der Mann mit der Glatze und schaute über Tats Schulter hinweg zu einem Ehepaar, das eben hereinkam.
Harriet saß sehr, sehr still da. Libby!, wollte sie schreien, so wie sie selbst jetzt noch manchmal laut nach Libby schrie, wenn sie im Dunkeln aus einem Alptraum erwachte. Libby, die beim Arzt Tränen in den Augen hatte. Libby, die sich vor Bienen fürchtete!
Sie schaute Allison an, und ihre Blicke trafen sich. Allisons Augen waren rot und kummervoll. Harriet presste die Lippen zusammen, bohrte die Fingernägel in die Handballen und starrte wütend auf den Teppich, und mit großer Konzentration hielt sie den Atem an.
Fünf Tage – fünf Tage bis zu ihrem Tod – war Libby in Krankenhaus gewesen. Kurz vor dem Ende hatte es sogar so ausgesehen, als würde sie noch einmal aufwachen. Sie hatte im Schlaf gemurmelt und die Phantomseiten eines Buches umgeblättert,
bevor ihre Worte vollends unverständlich wurden und sie in einem weißen Nebel aus Medikamenten und Lähmung versank. Ihre Lebenszeichen schwinden, sagte die Krankenschwester, die am letzten Morgen hereinkam, um nach ihr zu sehen, während Edie auf einer Pritsche neben dem Bett schlief. Es war gerade noch genug Zeit, um Adelaide und Tat ins Krankenhaus zu rufen – und dann, kurz vor acht, als ihre drei Schwestern alle an ihrem Bett versammelt waren, atmete sie langsamer und langsamer, »und dann«, sagte Tat mit betrübtem Lächeln, »dann hörte sie
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