Der kleine Freund: Roman (German Edition)
überhitzten Bestattungsgeschäft überwältigend wirkte, ließ Harriets Magen jedes Mal flau flattern, wenn der Ventilator umschwenkte und der Luftzug in ihre Richtung wehte. Sie hatte ihr bestes Sonntagskleid an, das weiße mit den Gänseblümchen, und saß mit trüben Augen auf einer Bank mit verschnörkelter Lehne. Die Schnitzereien bohrten sich zwischen ihre Schulterblätter, und das Kleid war oben herum zu eng, was die Beklemmungen in ihrer Brust und die atemberaubende Stickigkeit der Luft nur verstärkte. Sie hatte das Gefühl, eine Weltraumatmosphäre zu atmen, die nicht aus Sauerstoff, sondern aus einem leeren
Gas bestand. Weder zu Abend noch zum Frühstück hatte sie etwas gegessen. Den größten Teil der Nacht über hatte sie wach gelegen, das Gesicht ins Kopfkissen gedrückt, und geweint, und als sie am nächsten Vormittag mit pochendem Schädel die Augen geöffnet und ihr eigenes Zimmer gesehen hatte, war sie eine Weile benommen liegen geblieben und hatte die vertrauten Gegenstände bestaunt (die Gardinen, die Laubreflexe im Kommodenspiegel, sogar der Stapel der überfälligen Bücher aus der Bibliothek auf dem Boden war noch da). Alles war so, wie sie es an dem Tag, als sie ins Camp gefahren war, zurückgelassen hatte. Doch dann stürzte die Erinnerung wie ein schwerer Stein auf sie herab: Ida war fort, und Libby war tot, und alles war schrecklich und nicht in Ordnung.
Edie – in Schwarz, mit einem hohen Perlenkragen, wie gebieterisch sie aussah dort neben dem Pult mit dem Kondolenzbuch! – stand an der Tür. Zu jedem, der hereinkam, sprach sie genau die gleichen Worte: »Der Sarg steht nebenan«, sagte sie statt einer Begrüßung zu einem rotgesichtigen Mann in verstaubtem Braun, der ihre Hand umfasste, und dann, über seine Schulter hinweg, zu der mageren Mrs. Fawcett, die sittsam von hinten herangetrippelt war und wartete, bis sie an der Reihe war: »Der Sarg steht nebenan. Der Leichnam ist leider nicht ausgestellt, aber das war nicht meine Entscheidung.«
Einen Moment lang sah Mrs. Fawcett verwirrt aus, dann nahm auch sie Edies Hand. Sie sah aus, als wolle sie in Tränen ausbrechen. »Ich war so traurig, als ich es hörte«, sagte sie. »Wir alle unten in der Bibliothek haben Miss Cleve geliebt. Es war so traurig heute Morgen, als ich hereinkam und die Bücher sah, die ich für sie zurückgelegt hatte.«
Mrs. Fawcett!, dachte Harriet, und verzweifelte Zuneigung durchströmte sie. Im Gedränge der dunklen Kleider war sie ein tröstender Farbfleck in ihrem bedruckten Sommerkleid und den rotleinenen Espadrilles, so als komme sie geradewegs von der Arbeit.
Edie tätschelte ihr die Hand. »Ja, sie war gleichfalls verrückt nach Ihnen allen in der Bibliothek«, sagte sie, und Harriet wurde übel bei ihrem heftigen, eisigen Tonfall.
Adelaide und Tat standen bei der Bank Harriet gegenüber und schwatzten mit zwei stämmigen älteren Damen, die aussahen wie Schwestern. Sie sprachen über die Blumen in der Totenkapelle, die infolge einer Nachlässigkeit des Bestattungsinsituts über Nacht verwelkt waren. Die stämmigen Damen taten laute Ausrufe der Bestürzung.
»Man sollte doch meinen, dass die Putzfrauen oder sonst jemand sie hätte gießen können!«, rief die größere, fidelere der beiden. Sie hatte rundliche Apfelbäckchen und weiße Locken wie ein weiblicher Weihnachtsmann.
»Oh«, sagte Adelaide und hob kühl das Kinn, »die Mühe konnten sie sich wohl nicht zumuten.« Hass durchbohrte Harriet wie ein unerträglicher Stich – Hass auf Addie, auf Edie, auf alle diese alten Damen mit ihren forschen Fachkenntnissen zum Protokoll der Trauer.
Unmittelbar neben Harriet stand noch eine Gruppe von angeregt plaudernden Damen. Harriet kannte keine von ihnen, außer der Kirchenorganistin, Mrs. Wilder Whitfield. Noch einen Augenblick zuvor hatten sie laut gelacht, als wären sie auf einer Bridge-Party, aber jetzt steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten miteinander. »Olivia Vanderpool«, murmelte eine Frau mit nichts sagendem glatten Gesicht, »tja, Olivia hat sich jahrelang hingeschleppt. Am Ende wog sie noch fünfundsiebzig Pfund und konnte keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen.«
»Die arme Olivia. Nach dem zweiten Sturz war sie nie wieder die Alte.«
»Es heißt ja, Knochenkrebs sei der schlimmste Krebs.«
»Absolut. Ich kann nur sagen, es ist ein Segen, dass die kleine Miss Cleve so schnell dahingegangen ist. Sie hatte ja niemanden.«
Sie hatte niemanden? dachte Harriet. Libby?
Weitere Kostenlose Bücher