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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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fallen, aber in geschlossenen Räumen bekomme ich mindestens Kopfschmerzen davon«, sagte jemand.
    »Bringt sie an die frische Luft«, sagte der Fremde, der sie festhielt, ein alter Mann, ungewöhnlich groß, mit weißen Haaren und buschigen schwarzen Augenbrauen. Trotz der Hitze trug er einen Pullunder mit V-Ausschnitt über Hemd und Krawatte.
    Von nirgendwoher stieß Edie auf sie herab, ganz in Schwarz, wie die böse Hexe, und verharrte vor Harriets Gesicht. Kühle grüne Augen taxierten sie einen Moment lang eisig. Dann richtete sie sich auf (und auf und auf und auf) und sagte: »Bringt sie zum Wagen hinaus.«
    »Ich werde das tun«, sagte Adelaide. Sie ging um Harriet herum und nahm ihren linken Arm, und der alte Mann (der sehr alt war, über achtzig, vielleicht sogar über neunzig) nahm ihren rechten. Zusammen führten sie Harriet zur Tür hinaus in das blendende Sonnenlicht, sehr langsam, eher im Tempo des alten Mannes als in Harriets eigenem, so schwummrig ihr auch war.
    »Harriet«, sagte Adelaide wie eine Bühnenschauspielerin und drückte ihre Hand, »ich wette, du weißt nicht, wer das ist! Das ist Mr. J. Rhodes Sumner, der da, wo ich aufgewachsen bin, ein Haus hatte – nur ein Stück weit die Straße hinunter!«
    »Chippokes«, sagte Mr. Sumner und blies sich großspurig auf.
    »Richtig, Chippokes. Ganz in der Nähe von ›Drangsal‹. Ich weiß, du hast uns von Mr. Sumner erzählen hören, Harriet, der im diplomatischen Dienst nach Ägypten gegangen ist?«
    »Ich kannte deine Tante Addie, als sie noch ein kleines Baby war.«
    Adelaide lachte schäkernd. »So klein war ich nun auch wieder nicht, Harriet. Ich dachte, du möchtest dich gern mit Mr. Sumner unterhalten, weil du dich doch so sehr für König Tut und all das interessierst.«
    »Ich war nicht lange in Kairo«, sagte Mr. Sumner. »Nur während des Krieges. Damals war alle Welt in Kairo.« Er schlurfte zur offenen Beifahrertür einer langen schwarzen Cadillac-Limousine, die dem Bestattungsinstitut gehörte, und beugte sich ein wenig hinunter, um mit dem Fahrer zu sprechen. »Würden Sie sich wohl um diese junge Dame hier kümmern? Sie wird sich für ein paar Minuten auf dem Rücksitz hinlegen.«
    Der Fahrer, dessen Gesicht so weiß war wie Harriets, obwohl er eine riesige, rostrote Afrofrisur hatte, erschrak und schaltete sein Radio ab. »Wa ... ?«, fragte er und schaute hin und her, als wisse er nicht, wen er zuerst ansehen sollte: den tattrigen alten Weißen, der sich da ins Fenster lehnte, oder Harriet, die hinten einstieg. »Geht’s ihr nicht gut?«
    »Was sagt man dazu?« Mr. Sumner bückte sich und spähte hinter Harriet in den dunklen Innenraum des Wagens. »Gibt’s in diesem Ding vielleicht eine Bar?«
    Der Fahrer schüttelte sich und richtete sich auf. »Nein, Sir, Boss, die ist in meinem anderen Wagen!«, antwortete er mit scherzhafter, nachsichtiger, künstlicher Freundlichkeit.
    Mr. Sumner schlug beifällig mit der flachen Hand auf das Wagendach und lachte mit dem Fahrer. »Nicht schlecht!«, sagte
er. Seine Hände zitterten, und obwohl sein Verstand noch sehr klar zu sein schien, war er einer der ältesten und gebrechlichsten Menschen, die Harriet je hatte umherlaufen sehen. »Nicht schlecht! Ihnen geht’s offenbar ziemlich gut, was?«
    »Kann nicht klagen.«
    »Freut mich. So, Kind«, sagte er zu Harriet, »was möchtest du haben? Möchtest du eine Coca-Cola?«
    »Oh, John«, hörte sie Adelaide murmeln, »das braucht sie nicht.«
    John! Harriet blickte starr geradeaus.
    »Du musst wissen, dass ich deine Tante Libby mehr geliebt habe als irgendetwas auf der Welt«, hörte sie Mr. Sumner sagen. Seine Stimme klang alt und zittrig und sehr nach den Südstaaten. »Ich hätte das Mädchen gebeten, mich zu heiraten, wenn ich geglaubt hätte, dass sie mich nimmt.«
    Harriet stiegen die Tränen in die Augen, und das machte sie rasend. Sie presste die Lippen fest zusammen und bemühte sich, nicht zu weinen. Die Luft im Wagen war zum Ersticken.
    »Als dein Urgroßvater tot war«, sagte Mr. Sumner, »hab ich Libby tatsächlich gefragt, ob sie mich heiratet. So alt wir da beide schon waren.« Er gluckste. »Und weißt du, was sie gesagt hat?« Als er Harriets Blick nicht auf sich ziehen konnte, klopfte er leise an die Wagentür. »Hmm? Weißt du, was sie gesagt hat, Kind? Sie meinte, es könnte vielleicht gehen, wenn sie dazu nicht in ein Flugzeug steigen müsste! Ha ha ha! Damit du mich recht verstehst, junge Dame: Ich arbeitete damals

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