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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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durchkämpfen bis zum letzten Zwieback... Sie würde sie alle retten, und zwar mit Vorräten aus der Zukunft: Instantkakao und Vitamin-C-Tabletten, Gaskartuschen, Erdnussbutter, Benzin für die Schlitten und frisches Gemüse aus dem Garten und Taschenlampen mit Batterien...
    Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Stimme ihrer Mutter aus einer anderen Richtung kam. Harriet hob den Kopf. Ihre Mutter stand jetzt in der Tür.
    »Ich kann vermutlich überhaupt nichts richtig machen, ja?«, sagte sie.
    Sie wandte sich ab und ging hinaus. Es war noch keine zehn Uhr. Im Wohnzimmer war es schattig und kühl; dahinter gähnten die deprimierenden Tiefen des Flurs. Ein leichter, fruchtiger Hauch des Parfüms ihrer Mutter hing noch immer in der staubigen Luft.
    Kleiderbügel klirrten und scharrten im Garderobenschrank. Harriet blieb stehen, wo sie stand, und als sie ihre Mutter nach ein paar Minuten immer noch im Flur herumrascheln hörte, schob sie sich langsam hinüber zu der verirrten Kugel und stieß sie mit dem Fuß unter das Sofa. Dann setzte sie sich vorn auf die Kante von Idas Sessel und wartete. Nach langer Zeit wagte sie sich schließlich in den Flur hinaus und sah ihre Mutter vor dem offenen Wandschrank stehen; sie faltete  – nicht sehr ordentlich – ein paar Bettlaken zusammen, die sie vom obersten Bord genommen hatte.
    Ihre Mutter lächelte, als sei überhaupt nichts vorgefallen. Mit einem komischen kleinen Seufzer trat sie von dem Durcheinander zurück, das sie angerichtet hatte, und sagte: »Meine Güte. Manchmal denke ich, wir sollten einfach den Wagen voll packen und zu eurem Vater ziehen.«
    Sie blickte herüber zu Harriet. »Hm?«, sagte sie strahlend, als habe sie ein besonders großes Vergnügen vorgeschlagen. »Was würdest du dazu sagen?«
    Sie wird machen, was sie will , dachte Harriet verzweifelt. Es ist egal, was ich sage .
    »Ich weiß nicht, wie es dir geht«, sagte ihre Mutter und wandte sich wieder ihrer Wäsche zu, »aber ich finde, es wird Zeit, dass wir uns allmählich mehr wie eine Familie benehmen.«
    »Warum?«, fragte Harriet verwirrt nach einer kurzen Pause. Die Wortwahl ihrer Mutter war erschreckend. Oft, wenn Harriets Vater irgendeine unvernünftige Anweisung hatte geben wollen, hatte er sie mit diesen Worten eingeleitet: Wir müssen uns hier allmählich mehr wie eine Familie benehmen.
    »Ja, es ist einfach zu viel«, sagte ihre Mutter verträumt. »Zwei Mädchen allein großzuziehen.«
    Harriet ging nach oben, setzte sich auf ihre Fensterbank und schaute hinaus. Die Straße war heiß und leer. Den ganzen Tag zogen Wolken vorbei. Am Nachmittag um vier ging sie hinüber zu Edies Haus und setzte sich auf die Verandatreppe, das Kinn in die Hände gestützt, bis um fünf Uhr Edies Auto um die Ecke rollte.
    Harriet lief ihr entgegen. Edie klopfte an die Fensterscheibe und lächelte. Ihr marineblaues Kostüm war jetzt nicht mehr ganz so schneidig, sondern zerknautscht von der Hitze, und als sie aus dem Wagen stieg, bewegte sie sich steif. Harriet galoppierte neben ihr den Weg und die Stufen auf die Veranda hinauf und erzählte ihr atemlos, dass ihre Mutter vorgeschlagen hatte, nach Nashville zu ziehen. Zu Harriets Schrecken atmete Edie nur tief durch und schüttelte den Kopf.
    »Na ja«, sagte sie, »vielleicht ist das gar nicht so eine schlechte Idee.«
    Harriet wartete.
    »Wenn deine Mutter verheiratet sein will, muss sie sich auch ein bisschen Mühe geben, fürchte ich.« Edie blieb einen Moment lang still stehen, seufzte und schob dann den Schlüssel ins Türschloss. »So kann es ja nicht weitergehen.«
    »Aber warum? «, heulte Harriet.
    Edie blieb stehen und schloss die Augen, als habe sie Kopfschmerzen. »Er ist dein Vater, Harriet.«
    »Aber ich kann ihn nicht leiden .«
    »Ich hab auch nichts übrig für ihn«, fauchte Edie. »Aber wenn sie verheiratet bleiben wollen, dann sollten sie doch, schätze ich, im selben Staat leben, meinst du nicht?«
    »Dad ist das egal«, sagte Harriet entsetzt. »Ihm gefällt es, wie es ist.«
    Edie rümpfte die Nase. »Ja, das stimmt vermutlich.«
    »Wirst du mich nicht vermissen? Wenn wir wegziehen?«
    »Manchmal kommt es im Leben nicht so, wie es unserer Meinung nach kommen sollte«, sagte Edie, als eröffne sie ihr eine vergnügliche, aber wenig bekannte Tatsache. »Wenn die Schule anfängt ...«
    Wo? , dachte Harriet. Hier oder in Tennessee?
    »... dann solltest du dich ins Lernen stürzen. Das wird dich ablenken.«
    Bald wird sie tot sein,

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