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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dachte Harriet und starrte Edies Hände an, die an den Knöcheln geschwollen und schokoladenbraun gesprenkelt waren wie ein Vogelei. Libbys Hände waren zwar ähnlich geformt gewesen, aber weißer und schmaler,
und die Adern auf dem Handrücken waren blau hervorgetreten.
    Sie riss sich aus ihren Gedanken und war schockiert über Edies kalte, forschende Augen, die sie aufmerksam musterten.
    »Du hättest mit dem Klavierunterricht nicht aufhören sollen«, sagte Edie.
    »Das war Allison!« Harriet war immer furchtbar entsetzt, wenn Edie solche Fehler machte. »Ich hab nie Klavierunterricht gehabt.«
    »Na, dann solltest du damit anfangen. Du hast nicht mal halbwegs genug zu tun, das ist dein Problem, Harriet. Als ich in deinem Alter war, bin ich geritten und habe Geige gespielt und meine Kleider selbst genäht. Wenn du Nähen lernen würdest, würdest du vielleicht auch anfangen, dich ein bisschen mehr für dein Äußeres zu interessieren.«
    »Fährst du mit mir hinaus nach ›Drangsal‹, damit ich es mir ansehen kann?«, fragte Harriet unvermittelt.
    Edie war verblüfft. »Da gibt es nichts zu sehen.«
    »Aber fährst du mit mir hin? Bitte? Dahin, wo es war?«
    Edie gab keine Antwort. Mit ziemlich ausdruckslosem Gesicht starrte sie über Harriets Schulter hinweg. Als auf der Straße ein Auto donnernd beschleunigte, schaute Harriet an ihr vorbei und sah gerade noch, wie ein metallisches Blitzen um die Ecke verschwand.
    »Falsche Adresse«, sagte Edie und nieste. »Gesundheit. Nein«, sagte sie blinzelnd und fischte in ihrer Handtasche nach einen Taschentuch, »draußen bei ›Drangsal‹ gibt es nicht mehr viel zu sehen. Der Kerl, dem das Grundstück jetzt gehört, ist Hühnerfarmer. Vielleicht lässt er uns nicht einmal die Stelle anschauen, wo das Haus gestanden hat.«
    »Warum nicht?«
    »Weil er ein fetter alter Gauner ist. Alles da draußen ist in Stücke gegangen.« Abwesend tätschelte sie Harriets Rücken. »Jetzt lauf nach Hause, damit Edie diese hochhackigen Schuhe ausziehen kann.«
    »Wenn sie nach Nashville ziehen, kann ich dann hier bleiben und bei dir wohnen?«
    »Aber Harriet!«, sagte Edie erschrocken und verwirrt. »Willst du denn nicht bei deiner Mutter und Allison sein?«
    »Nein, Ma’am.« Harriet beobachtete Edie aufmerksam.
    Aber Edie zog nur die Brauen hoch, als sei sie amüsiert. Auf ihre vergnügte Art, die Harriet rasend machte, sagte sie: »Oh, ich nehme an, dass du dir das nach einer oder zwei Wochen anders überlegen würdest.«
    Harriet stiegen die Tränen in die Augen. »Nein!«, rief sie nach einer störrischen, unbefriedigenden Pause. »Warum sagst du das dauernd? Ich weiß , was ich will; ich überleg’s mir nie ...«
    »Lass uns darüber reden, wenn es so weit ist, ja?«, sagte Edie. »Neulich erst habe ich etwas gelesen, das Thomas Jefferson an John Adams geschrieben hat, als er ein alter Mann war: dass die meisten Dinge, die ihm im Leben Sorgen bereitet hatten, nie wirklich zustande gekommen seien. ›Wie viel Schmerz hat uns das Unheil bereitet, das nie geschehen ist‹ oder so ähnlich.« Sie sah auf die Uhr. »Falls es dich tröstet: Ich glaube, es wird schon ein Torpedo nötig sein, um deine Mutter aus diesem Haus zu treiben, aber das ist meine Meinung. Und jetzt lauf zu.« Harriet stand da und starrte sie hasserfüllt mit roten Augen an.

    Kaum war er um die Ecke gebogen, hielt Danny vor der Presbyterianerkirche an. »Allmächtiger«, sagte Farish. Er atmete schwer durch die Nase. »War sie das?«
    Danny, der so high und so überwältigt war, dass er kaum sprechen konnte, nickte nur. Er hörte alle möglichen beängstigenden kleinen Geräusche: das Atmen der Bäume, das Singen der Drähte, das Knistern des Grases beim Wachsen.
    Farish drehte sich um und schaute aus dem Rückfenster. »Verdammt, ich hab dir gesagt, du sollst die Kleine suchen. Willst du mir sagen, dass du sie jetzt zum ersten Mal gesehen hast?«
    »Ja«, sagte Danny scharf. Er war erschüttert, wie plötzlich das Mädchen in Sicht gekommen war, am beunruhigenden
Rand seines Gesichtsfeldes, genau wie sie es beim Wasserturm getan hatte (obwohl er Farish vom Wasserturm nichts erzählen konnte; er hatte am Wasserturm nichts zu suchen ). Und jetzt, auf diesem Rundkurs ohne Ziel ( wechsle die Strecke , sagte Farish, wechsle die Fahrtzeiten, guck immer wieder in den Rückspiegel ), war er um die Ecke gebogen – und wen hatte er gesehen? Das Mädchen, das auf einer Veranda stand.
    Allerlei Echos. Atmend,

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