Der kleine Freund: Roman (German Edition)
sein Gewicht auf dem Sitz, »jemand ist da raufgestiegen und hat bei Eugene die Schlangen rausgelassen. Die Fenster sind dicht bis auf das auf dem Klo. Und da könnte nur ein Kind rein.«
»Ich werd mit ihr reden«, sagte Danny. Werd sie ’ne Menge fragen. Zum Beispiel: Wieso hab ich dich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen , und jetzt seh ich dich überall? Zum Beispiel: Wieso schwirrst und flatterst du nachts an meinem Fenster rum wie ein Totenkopffalter?
Er hatte so lange nicht geschlafen, dass er, wenn er jetzt die Augen schloss, an einem Ort voller Schilf und dunkler Seen war, mit Bootswracks, die halb versunken im schaumigen Wasser trieben. Und da war sie mit ihrem mottenweißen Gesicht und ihrem schwarzen Haar und wisperte etwas in diesem feuchten, zikadenschrillen Zwielicht, etwas, das er fast verstand, aber doch nicht ganz...
Ich kann dich nicht hören, sagte er.
»Was nicht hören?«
Ping: schwarzes Armaturenbrett, blaue presbyterianische
Ziertannen, Farish, der ihn auf dem Beifahrersitz anstarrte. »Was nicht hören?«, wiederholte er.
Danny blinzelte, wischte sich über die Stirn. »Schon gut«, sagte er. Er schwitzte.
»In Vietnam, diese kleinen Bombenlegerinnen, das waren zähe Biester«, sagte Farish vergnügt. »Rannten mit scharfen Granaten durch die Gegend – für die war das alles ein Spiel. So’n Kind kannst du dazu bringen, Sachen zu machen, die nur ein Verrückter versuchen würde.«
»Ja«, sagte Danny. Das war eine von Farishs Lieblingstheorien. In Dannys Kindheit hatte er damit gerechtfertigt, dass er Danny und Eugene und Mike und Ricky Lee die ganze Dreckarbeit für ihn machen und durch Fenster klettern ließ, während er, Farish, im Wagen saß, Honigkringel aß und sich voll dröhnte.
»Kinder werden geschnappt? Na und? Jugendstrafe? Scheiße...« Farish lachte. »Als ihr klein wart, hab ich euch drauf trainiert . Ricky ist durch Fenster geklettert, kaum dass er auf meinen Schultern stehen konnte. Und wenn ein Cop vorbeikam...«
»Allmächtiger«, sagte Danny nüchtern und richtete sich auf, denn im Rückspiegel sah er, wie das Mädchen mutterseelenallein um die Ecke kam.
Harriet, den Kopf gesenkt, die Stirn nachdenklich gerunzelt, ging die Straße entlang auf die Presbyterianerkirche zu (und ihr trostloses Zuhause, drei Straßen weiter), als etwa fünf Meter weit vor ihr die Tür eines parkenden Autos plötzlich klickend aufsprang.
Es war der TransAm. Fast ehe sie einen Gedanken fassen konnte, machte sie kehrt, huschte in den dumpfigen, bemoosten Garten der Kirche und rannte los.
Durch den Garten neben der Kirche gelangte man über Mrs. Claibornes Garten (Hortensienbüsche, winziges Treibhaus) geradewegs zu Edies Garten – der durch einen zwei Meter hohen Bretterzaun versperrt war. Harriet lief durch einen dunklen
Gang – Edies Zaun auf der einen Seite, auf der anderen eine stachlige, undurchdringliche Hecke aus Lebensbäumen, die den Nachbargarten säumte – und stieß wieder auf einen Zaun: Mrs. Davenports Garten, ein Maschendrahtzaun. In panischer Hast kletterte Harriet darüber hinweg. Oben blieben ihre Shorts an einem Draht hängen; mit einer Drehung des ganzen Körpers riss sie sich los und sprang keuchend hinunter.
Hinter sich, in dem belaubten Durchgang, hörte sie das Krachen und Brechen von Schritten. In Mrs. Davenports Garten gab es nicht viel Deckung; sie schaute sich hilflos um, rannte dann quer durch den Garten, riegelte das Tor auf und lief durch die Einfahrt. Sie hatte vor, zu Edies Haus zurückzulaufen, aber als sie den Gehweg erreicht hatte, ließ etwas sie innehalten (woher kamen diese Schritte?), und nachdem sie einen Sekundenbruchteil lang überlegt hatte, rannte sie geradeaus weiter, auf das Haus der O’Bryants zu. Sie war mitten auf der Straße, als zu ihrem Schrecken der TransAm um die Ecke kam.
Sie hatten sich also getrennt. Das war clever. Harriet rannte unter den hohen Kiefern hindurch, über die Kiefernnadeln, die wie ein Teppich im tief überschatteten Vorgarten der O’Bryants lagen, zu dem kleinen Häuschen an der Rückseite, in dem Mr. O’Bryants Pooltisch stand. Sie packte die Türklinke, rüttelte daran – abgeschlossen. Atemlos starrte sie hinein zu den gelblichen, kiefernholzgetäfelten Wänden – sah Bücherregale, die bis auf ein paar alte Jahrbücher der Alexandria Academy leer waren, und eine Glaslampe mit der Aufschrift »Coca-Cola« an einer Kette über dem dunklen Billardtisch – und lief dann nach
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