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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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der Schachtel gekullert. Harriet raffte sie hastig zusammen und stopfte eine ganze Hand voll in die Tasche.
    »Wo bist du?«
    Harriet hatte gerade noch Gelegenheit, alles wieder unter den Sessel zu schieben und aufzustehen, bevor ihre Mutter in der Tür erschien. Der Puder in ihrem Gesicht war verwischt, sie hatte eine rote Nase und feuchte Augen, und einigermaßen überrascht sah Harriet, dass sie Robins Drosselkostüm mitgebracht hatte. Wie schwarz es aussah, wie klein . Schlaff und formlos hing es an dem gepolsterten Satinkleiderbügel wie Peter Pans Schatten, den er sich mit Seife hatte ankleben wollen.
    Ihre Mutter schien etwas sagen zu wollen, aber dann brach sie ab und schaute Harriet verwundert an. »Was machst du hier?«
    In banger Erwartung starrte Harriet das winzige Kostüm an. »Warum?...«, begann sie, aber dann konnte sie nicht weitersprechen und deutete nur mit dem Kopf darauf.
    Harriets Mutter warf einen verdutzten Blick auf das Kostüm  – fast, als habe sie vergessen, dass sie es in der Hand hatte. »Oh«, sagte sie und betupfte einen Augenwinkel mit einem Papiertaschentuch. »Tom French hat Edie gefragt, ob sein Kind es ausborgen kann. In der ersten Runde spielen sie gegen ein Team, das ›Die Raben‹ heißt, und Toms Frau meinte, es wäre doch niedlich, wenn eins der Kinder sich als Rabe verkleidet und mit der Cheerleader-Truppe auf das Feld marschiert.«
    »Aber wenn du es ihnen nicht leihen willst, musst du ihnen sagen, dass sie es nicht bekommen.«
    Harriets Mutter machte ein überraschtes Gesicht. Einen langen, seltsamen Augenblick lang schauten die beiden einander an.
    Harriets Mutter räusperte sich. »Wann möchtest du nach Memphis fahren und deine Schulkleider kaufen?«
    »Wer soll sie fertig machen?«
    »Wie bitte?«
    »Ida näht immer die Säume um.«
    Harriets Mutter wollte etwas sagen, aber dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie einen unangenehmen Gedanken vertreiben. »Wann wirst du nur darüber hinwegkommen?«
    Harriet starrte wütend auf den Teppich. Niemals , dachte sie.
    »Schatz, ich weiß, dass du Ida geliebt hast – und vielleicht wusste ich nicht, wie sehr ...«
    Schweigen.
    »Aber... Liebling, Ida wollte weg.«
    »Sie wäre geblieben, wenn du sie darum gebeten hättest.« Harriets Mutter räusperte sich. »Schatz, ich bin genauso traurig darüber wie du, aber Ida wollte nicht bleiben. Dein Vater hat sich ständig über sie beklagt, weil sie so wenig arbeitete. Er und ich haben uns am Telefon immer wieder deshalb gestritten, wusstest du das?« Sie schaute zur Decke. »Er fand, sie täte nicht genug, und für das, was wir ihr bezahlt haben...«
    »Ihr habt ihr doch gar nichts bezahlt!«
    »Harriet, ich glaube, dass Ida hier schon... schon sehr lange nicht mehr zufrieden war. Sie wird anderswo ein besseres Gehalt bekommen... Es ist ja nicht so, dass ich sie noch brauche wie damals, als ihr klein wart, du und Allison ...«
    Harriet hörte mit eisiger Miene zu.
    »Ida war so viele Jahre bei uns, dass ich mir wohl irgendwie eingeredet habe, ich könnte ohne sie nicht auskommen, aber... uns geht es doch prima , oder?«
    Harriet biss sich auf die Oberlippe und starrte verstockt in die Ecke des Zimmers – Durcheinander überall, der Ecktisch übersät mit Stiften, Briefumschlägen, Untersetzern, alten Taschentüchern,
und auf einem Stapel Zeitschriften stand ein überquellender Aschenbecher.
    »Oder? Prima, oder? Ida«, ihre Mutter schaute sich hilflos um, »Ida ist einfach rücksichtslos über mich hinweggegangen, hast du das nicht bemerkt?«
    Es war lange still, und Harriet sah aus dem Augenwinkel auf dem Teppich unter dem Tisch eine Patrone, die sie übersehen hatte.
    »Versteh mich nicht falsch. Als ihr klein wart, hätte ich auf Ida nicht verzichten können. Sie hat mir enorm geholfen. Vor allem, als...« Harriets Mutter seufzte. »Aber in den letzten paar Jahren war sie mit nichts von dem zufrieden, was hier im Hause vorging. Zu euch war sie ja nett, aber mir gegenüber war sie voller Abneigung. Stand einfach da mit verschränkten Armen und hat mich verurteilt ...«
    Harriet starrte unverwandt auf die Patrone. Sie langweilte sich jetzt ein bisschen, hörte die Stimme ihrer Mutter, ohne wirklich zuzuhören, blickte weiter zu Boden und driftete bald in ihren bevorzugten Tagtraum. Die Zeitmaschine startete; Harriet brachte Notvorräte zu Scotts Gruppe am Pol. Alles hing von ihr ab. Packlisten, Packlisten, und er hatte lauter falsche Dinge mitgenommen. Müssen es

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