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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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in ihren grünen »Camp Lake de Selby«-T-Shirts, absolut niedergeschmettert.
    »Sag deiner Mutter, du bringst dich um«, schlug Hely atemlos vor. Eine große Gruppe seiner Schulfreunde war am Tag zuvor abtransportiert worden; mit resigniert herabhängenden Schultern waren sie zu dem leuchtend grünen Schulbus geschlichen, als müssten sie nicht ins Sommerlager fahren, sondern geradewegs in die Hölle. »Ich habe ihnen gesagt, ich bringe
mich um, wenn sie mich noch mal zwingen, da hinzufahren. Ich habe gesagt, ich lege mich auf die Straße und lasse mich von einem Auto überfahren.«
    »Darum geht’s nicht.« In knappen Worten berichtete Harriet von dem Kater.
    »Du fährst also nicht ins Camp?«
    »Nicht, wenn ich es verhindern kann«, sagte Harriet. Wochenlang hatte sie die Post abgefangen und auf die Anmeldeformulare gewartet; als sie gekommen waren, hatte sie sie zerrissen und unter den Müll gemischt. Aber die Gefahr war noch nicht vorbei. Edie war die eigentliche Bedrohung (ihre geistesabwesende Mutter hatte noch gar nicht gemerkt, dass die Formulare nicht da waren), denn sie hatte schon einen Brotbeutel und ein Paar neue Turnschuhe für Harriet gekauft und fragte beständig nach der Proviantliste.
    Hely nahm das Bild von dem Pavian in die Hand und betrachtete es. »Wofür ist das?«
    »Ach. Das.« Sie erzählte es ihm.
    »Vielleicht wäre ein anderes Tier noch besser«, erwog Hely. Er konnte Edie nicht leiden. Sie machte sich immer über sein Haar lustig und tat, als halte sie ihn für ein Mädchen. »Ein Nilpferd vielleicht. Oder ein Schwein.«
    »Ich finde das hier ziemlich gut.«
    Er beugte sich über ihre Schulter, aß Erdnüsse, die er aus der Hosentasche holte, und sah zu, wie Harriet das zähnefletschende Gesicht des Pavians auf Edies klebte, kunstvoll umrahmt von ihrer Frisur. Mit entblößten Eckzähnen funkelte es den Betrachter aggressiv an, während Harriets Großvater, im Profil, seine äffische Braut hingerissen anstrahlte. Unter dem Foto stand in Edies Handschrift:

    Edith und Hayward
Ocean Springs, Mississippi
11. Juni 1939

    Sie betrachteten es gemeinsam eingehend.
    »Du hast Recht«, sagte Hely, »das ist ziemlich gut.«
    »Ich hatte an eine Hyäne gedacht, aber das ist besser.«
    Sie hatten eben das Lexikon wieder ins Regal gestellt und auch das Album zurückgelegt (auf den Umschlagdeckel waren vergoldete viktorianische Schnörkel geprägt), als sie hörten, wie Edies Wagen knirschend in die kiesbedeckte Einfahrt bog.
    Die Fliegentür schlug zu. »Kinder«, hörten sie Edie rufen, als ob nichts wäre.
    Keine Antwort.
    »Kinder, ich habe beschlossen, dass ich keine Spielverderberin sein will, und deshalb habe ich den Kater mit nach Hause gebracht, damit ihr ihn begraben könnt, aber wenn nicht augenblicklich eine von euch Antwort gibt, werde ich auf der Stelle kehrtmachen und ihn zu Dr. Clark zurückbringen.«
    Alle drei Kinder stürmten zur Tür und starrten sie an.
    Edie zog eine Braue hoch. »Ja, wer ist denn diese kleine Miss?«, fragte sie Hely in gespielter Überraschung. Sie hatte ihn sehr gern – er erinnerte sie an Robin, von den grässlichen langen Haaren abgesehen –, und sie ahnte nicht, dass sie mit dem, was sie als gutmütige Neckerei betrachtete, seinen erbitterten Hass geweckt hatte. »Bist du das etwa, Hely? Ich fürchte, ich habe dich nicht erkannt unter deinen goldenen Locken.«
    Hely grinste spöttisch. »Wir haben uns ein paar Bilder von Ihnen angeguckt.«
    Harriet gab ihm einen Tritt.
    »Na, das kann ja nicht sehr aufregend gewesen sein«, sagte Edie und wandte sich dann an ihre Enkelinnen. »Kinder, ich dachte, ihr möchtet den Kater in eurem eigenen Garten begraben; deshalb bin ich auf dem Rückweg bei euch zu Hause vorbeigefahren und habe Chester gebeten, ein Grab auszuheben.«
    »Wo ist Weenie?«, fragte Allison. Ihre Stimme klang heiser, und in ihren Augen lag ein irrer Ausdruck. »Wo ist er? Wo hast du ihn gelassen?«
    »Bei Chester. Er ist in sein Handtuch gewickelt. Ich schlage vor, dass ihr ihn nicht mehr auspackt, Kinder.«

    »Los«, sagte Hely und gab Harriet einen Stoß mit der Schulter. »Gehen wir gucken.«
    Er und Harriet standen in dem dunklen Werkzeugschuppen in Harriets Garten, wo Weenies Leichnam in ein blaues Badetuch gewickelt auf Chesters Werkbank lag. Allison, die sich immer noch die Augen ausweinte, war im Haus und wühlte in den Schubladen nach einem alten Pullover, auf dem der Kater gern geschlafen hatte und den sie ihm mit ins Grab geben

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