Der kleine Freund: Roman (German Edition)
Lesebrille tief auf die Nasenspitze herunter und legte sich eine Strickjacke mit juwelenblitzenden Knöpfen um die Schultern; es war ein warmer Tag, aber sie fröstelte leicht, und sie musste sich etwas über ihr Hauskleid ziehen, wenn sie das Haus verließ. So lief sie dann zur Hintertür hinaus und hinüber zum Zaun.
Es war ein klarer, frischer, luftiger Tag. Niedrige Wolken jagten über den Himmel. Der Rasen – er musste gemäht werden, es war tragisch, wie Charlotte alles verkommen ließ – war übersät von Veilchen, wildem Sauerampfer, Klee und Pusteblumen, und der Wind kräuselte das Gras in planlosen Strömungen und Wirbeln wie ein Meer. Glyzinenranken ringelten sich von der Veranda, fein wie Seetang. Sie hingen so dick über die Rückseite des Hauses, dass man die Veranda kaum noch sehen konnte. Ganz hübsch anzusehen, wenn sie blühten, aber die restliche Zeit waren sie ein struppiges Durcheinander, und mit ihrem Gewicht würden sie irgendwann die Veranda einstürzen lassen. Glyzinen waren Parasiten, sie
schwächten das Gefüge eines Hauses, wenn man sie überall hinkriechen ließ – aber manche Leute mussten eben ihr Lehrgeld bezahlen.
Sie hatte erwartet, dass die Kinder sie begrüßen würden, und blieb erwartungsvoll eine Weile am Zaun stehen, aber sie nahmen keine Notiz von ihr, sondern fuhren fort mit dem, was immer sie da taten.
»Was macht ihr Kinder da drüben?«, rief sie schließlich honigsüß.
Sie blickten hoch wie erschrockene Rehe.
»Begrabt ihr da was?«
»Nein«, schrie Harriet, die Kleine, in einem Ton, der Mrs. Fountain nicht besonders gefiel. Sie war eine Neunmalkluge, diese Göre.
»Sieht aber so aus.«
»Na, es stimmt aber nicht.«
»Ich glaube, ihr begrabt die alte gelbe Katze.«
Keine Antwort.
Mrs. Fountain blinzelte über ihre Lesebrille hinweg. Ja, das große Mädchen weinte. Sie war zu alt für solchen Unsinn. Die Kleine legte ihr Bündel in das Loch.
»Genau das ist es, was ihr da macht«, krähte Mrs. Fountain. »Ihr könnt mir nichts vormachen. Diese Katze war eine Plage. Jeden Tag ist sie hergekommen und hat ihre scheußlichen Pfoten auf meine Windschutzscheibe geschmiert.«
»Kümmere dich nicht um sie«, sagte Harriet mit zusammengebissenen Zähnen zu ihrer Schwester. »Altes Miststück.«
Hely hatte noch nie ein Schimpfwort von Harriet gehört. Ein ruchloser Wonneschauer flatterte an seinem Nacken hinunter. »Miststück«, wiederholte er etwas lauter, und das böse Wort schmeckte köstlich auf seiner Zunge.
»Was war das?«, schrie Mrs. Fountain schrill. »Wer hat das gesagt da drüben?«
»Halt den Mund«, sagte Harriet zu Hely.
»Wer von euch hat das gesagt? Wer ist das da drüben bei euch Mädchen?«
Harriet war auf die Knie gefallen und schob mit bloßen
Händen die Erde wieder in das Loch, auf das blaue Handtuch. »Komm schon, Hely«, zischte sie. »Schnell. Hilf mir.«
»Wer ist das da drüben?«, quakte Mrs. Fountain. »Antwortet lieber. Sonst gehe ich sofort ins Haus und rufe eure Mutter an.«
»Scheiße«, sagte Hely, kühner geworden, und errötete vor Wagemut. Er ließ sich neben Harriet auf die Knie fallen und half ihr hastig, die Erde ins Loch zu schieben. Allison stand dabei, eine Faust an den Mund gepresst, und die Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Ich rate euch, Kinder, antwortet mir.«
»Wartet«, rief Allison plötzlich. »Wartet!« Sie wandte sich vom Grab ab und rannte durch das Gras zum Haus.
Harriet und Hely hielten inne, die Hände bis an die Handgelenke in der Erde.
»Was macht sie denn?«, flüsterte Hely und wischte sich mit dem erdverschmierten Handrücken über die Stirn.
»Ich weiß es nicht«, sagte Harriet ratlos.
»Ist das der kleine Hull?«, rief Mrs. Fountain. »Du kommst jetzt hierher. Ich werde deine Mutter anrufen. Du kommst sofort hierher.«
»Ruf sie doch an, Miststück«, murmelte Hely. »Sie ist nicht zu Hause.«
Die Fliegentür schlug zu, und Allison kam stolpernd herausgelaufen, einen Arm vor dem Gesicht, tränenblind.»Hier«, sagte sie, und sie fiel neben ihnen auf die Knie und warf etwas ins offene Grab.
Hely und Harriet reckten die Hälse, um zu sehen, was es war. Ein Bild von Allison, ein Atelierporträt, das im Herbst zuvor in der Schule aufgenommen worden war, lächelte aus der losen Erde zu ihnen herauf. Sie hatte einen rosa Pullover mit einem Spitzenkragen an und trug rosa Spangen im Haar.
Schluchzend schaufelte sie eine doppelte Hand voll Erde auf und warf sie ins Grab, auf ihr
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