Der kleine Freund: Roman (German Edition)
wollte.
Harriet schaute aus dem Fenster des Werkzeugschuppens, das pelzig von Staub war. Am Rande des hellen Sommerrasens sah sie die Silhouette Chesters, der kraftvoll auf das Blatt des Spatens trat.
»Okay«, sagte sie. »Aber schnell. Bevor sie zurückkommt.«
Erst nachher wurde Harriet klar, dass sie zum ersten Mal ein totes Lebewesen sah oder berührte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es ein solcher Schock sein würde. Der Leib der Katze war kalt und unnachgiebig und fühlte sich hart an, und ein hässliches Kribbeln durchströmte ihre Fingerspitzen.
Hely beugte sich vor, um besser zu sehen. »Eklig«, sagte er entzückt.
Harriet streichelte das orangegelbe Fell. Es war immer noch orangegelb und so weich wie eh und je, trotz der erschreckenden Holzartigkeit des Körpers darunter. Seine Pfoten waren starr ausgestreckt, als stemme er sich dagegen, in einen Wasserbottich geworfen zu werden, und seine Augen, die noch in Alter und Leiden von klarem, klingendem Grün gewesen waren, waren jetzt von einem gallertigen Film verklebt.
Hely beugte sich vor, um ihn zu berühren. »Hey«, japste er und riss die Hand weg. »Eklig .«
Harriet zuckte nicht zurück. Behutsam strich sie mit der Hand über die Seite des Katers bis zu der rosafarbenen Stelle, wo das Fell nie ganz nachgewachsen war – wo die Maden an ihm gefressen hatten, als er klein gewesen war. Im Leben hatte Weenie sich von niemandem dort berühren lassen; er fauchte und schlug nach jedem, der es versuchte, sogar wenn es Allison
war. Aber der Kater blieb still, und seine Lippen waren von den zusammengebissenen, nadelspitzen Zähnen zurückgezogen. Die Haut dort war runzlig, rau wie Wildleder und kalt kalt kalt.
Das also war das Geheimnis, das Captain Scott und Lazarus und Robin teilten und das sogar der Kater in seiner letzten Stunde kennen gelernt hatte: Das war es – der Übergang in das Buntglasfenster. Als man Scotts Zelt acht Monate später fand, lagen Bowers und Wilson in ihren über den Köpfen geschlossenen Schlafsäcken, und Scott lag in einem offenen Schlafsack und hatte einen Arm über Wilson gelegt. Dort die Antarktis und hier ein frischer grüner Morgen im Mai, aber die Gestalt unter ihrer Handfläche war hart wie Eis. Sie strich mit den Fingerknöcheln über seine Vorderpfoten, deren weißes Fell wie ein Strumpf aussah. Es ist schade, hatte Scott mit seiner erstarrenden Hand geschrieben, als das Weiß der weißen Unendlichkeit sanft näher rückte und die matte Bleistiftschrift auf dem weißen Papier immer matter wurde, aber ich glaube, ich kann nicht mehr schreiben.
»Ich wette, du fasst seinen Augapfel nicht an«, sagte Hely und schob sich wieder dichter heran. »Trau dich.«
Harriet hörte ihn kaum. Das war es, was ihre Mutter und Edie gesehen hatten: die äußere Finsternis, das Grauen, von dem man nicht zurückkam. Worte, die vom Papier ins Leere glitten.
Im kühlen Halbdunkel des Schuppens kam Hely noch näher heran. »Hast du Angst?«, flüsterte er. Seine Hand stahl sich auf ihre Schulter.
»Hör auf damit.« Harriet schüttelte sie ab.
Sie hörte, wie die Fliegentür zufiel und wie ihre Mutter Allison etwas hinterherrief. Hastig warf sie das Handtuch wieder über den Kater.
Es würde sie nie wieder ganz verlassen, das Schwindelgefühl dieses Augenblicks; es würde für den Rest ihres Lebens bei ihr bleiben, stets unauflöslich vermischt mit dem halbdunklen Werkzeugschuppen – blinkende Metallsägezähne, der Geruch von Staub und Benzin – und drei tote Engländer
unter einer Schneewechte, mit glitzernden Eiszapfen in den Haaren. Amnesie: Eisschollen, gewaltige Entfernungen, der Körper zu Stein geworden. Das Grauen aller Körper.
»Komm«, sagte Hely und warf den Kopf in den Nacken, »lass uns hier verschwinden.«
»Ich komme«, sagte Harriet. Ihr Herz pochte, und sie war atemlos – aber es war nicht die Atemlosigkeit der Angst, es fühlte sich fast so an wie Wut.
Mrs. Fountain hatte den Kater nicht vergiftet, aber sie war nichtsdestoweniger froh, dass er tot war. Am Fenster über ihrem Spülbecken – auf diesem Beobachtungsposten stand sie jeden Tag stundenlang und verfolgte das Kommen und Gehen ihrer Nachbarn – hatte sie gesehen, wie Chester die Grube ausgehoben hatte, und als sie jetzt durch den Küchenvorhang spähte, sah sie die drei Kinder, die darum versammelt waren. Eins von ihnen – die Kleine, Harriet – hielt ein Bündel im Arm. Die Große weinte.
Mrs. Fountain zog ihre perlenumrahmte
Weitere Kostenlose Bücher