Der kleine Freund: Roman (German Edition)
war nicht bereit, sie hinzunehmen, und so gab es jedes Mal Ärger.
Manchmal schlug er sie mit dem Gürtel, weil sie Widerworte gab; Allison schaute dann mit glasigem Blick zu, und ihre Mutter verkroch sich im Schlafzimmer. Bei anderen Gelegenheiten gab er Harriet zur Strafe gewaltige und unerfüllbare Aufgaben (mit dem Handrasenmäher den Garten mähen oder allein den ganzen Dachboden aufräumen), und Harriet verschränkte daraufhin die Arme und weigerte sich schlichtweg zu gehorchen. »Na los!«, sagte Ida Rhew dann, wenn ihr Vater die Treppe hinuntergepoltert war, und streckte mit besorgter Miene den Kopf durch die Speichertür. »Fang lieber an, sonst kriegst du noch mal Haue, wenn er zurückkommt.«
Aber Harriet hockte mit finsterer Miene zwischen Stapeln von alten Zeitungen und Illustrierten und rührte sich nicht. Er konnte sie verprügeln, so lange er wollte; das war ihr egal. Es ging ums Prinzip. Und Ida machte sich dann oft solche Sorgen um Harriet, dass sie ihre eigene Arbeit liegen ließ, nach oben ging und die Sache selbst übernahm.
Weil ihr Vater so ein Streithammel und mit allem so unzufrieden war, fand Harriet es ganz richtig, dass er nicht zu Hause wohnte. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass das Arrangement seltsam war, und niemals hätte sie erkannt, dass die Leute es merkwürdig fanden, bis ihr Schulbus eines Nachmittags – sie ging in die vierte Klasse – eine Panne hatte. Harriet saß neben einem geschwätzigen kleineren Mädchen namens Christy Dooley, die große Schneidezähne hatte und jeden Tag in einem weißen Häkelponcho zur Schule kam. Sie war die Tochter eines Polizisten, auch wenn nichts in ihrem Verhalten darauf hinwies, wenn man sie sah: eine weiße, sich ruckartig bewegende Maus. Sie schwatzte, ohne dass man sie dazu ermutigte, und trank zwischendurch immer wieder einen Schluck übrig gebliebene Gemüsesuppe aus ihrer Thermosflasche und plauderte diverse Geheimnisse aus (über Lehrer und über die Eltern anderer Leute), die sie zu Hause aufgeschnappt hatte. Harriet starrte missmutig aus dem Fenster und wartete darauf, dass jemand kam und den Bus reparierte, als ihr schlagartig klar wurde, dass Christy über ihre Eltern redete.
Harriet drehte sich um und starrte sie an. Oh, das wusste doch jeder, flüsterte Christy und schmiegte sich unter ihrem Poncho weiter an (sie rückte immer unerträglich nahe an einen heran). Ob Harriet sich denn nicht fragte, warum ihr Dad woanders wohnte?
»Weil er da arbeitet«, sagte Harriet. Noch nie war ihr diese Erklärung unzureichend erschienen, aber Christy gab einen zufriedenen und sehr erwachsenen kleinen Seufzer von sich und erzählte Harriet dann die wahre Geschichte. Kern der Sache war, dass Harriets Vater nach Robins Tod hatte umziehen wollen, irgendwohin, wo er »einen neuen Anfang« machen könnte. Von vertraulichem Grusel erfasst, riss Christy die Augen auf. »Aber sie wollte nicht.« Es war, als rede Christy nicht über Harriets Mutter, sondern über eine Frau in einer Gespenstergeschichte. »Sie sagte, sie würde für immer bleiben.«
Harriet, die sich schon ärgerte, weil sie überhaupt neben Christy sitzen musste, rückte auf ihrem Sitz von ihr ab und schaute wieder aus dem Fenster.
»Bist du wütend?«, fragte Christy hinterhältig.
»Nein.«
»Was hast du denn dann?«
»Dein Atem riecht nach Suppe.«
In den darauffolgenden Jahren hatte Harriet, von Kindern wie von Erwachsenen gleichermaßen, noch andere Bemerkungen gehört, die alle darauf hinausliefen, dass bei ihr zu Hause etwas »nicht geheuer« sei, aber Harriet fand das alles lächerlich. Die Wohnsituation ihrer Familie war praktisch begründet. Ihr Vater verdiente in Nashville die Brötchen, aber niemand freute sich über seine Feiertagsbesuche; er wiederum konnte weder Edie noch die Tanten leiden, und alle sahen bestürzt, wie unerbittlich er Harriets Mutter zusetzte und sie damit zur Raserei trieb. Im Jahr zuvor hatte er sie bekniet, mit ihm auf irgendeine Weihnachtsparty zu gehen, bis sie schließlich (sie hatte sich die Schultern unter den dünnen Ärmeln ihres Nachthemds gerieben) die Augen kurz geschlossen und okay gesagt hatte. Aber als es Zeit wurde, sich fertig zu machen, hatte sie im Bademantel vor der Frisierkommode gesessen
und ihr Spiegelbild angestarrt, ohne sich die Lippen zu schminken oder sich die Nadeln aus dem Haar zu nehmen. Als Allison auf Zehenspitzen heraufkam, um nach ihr zu sehen, sagte sie, sie habe Migräne. Dann schloss sie sich im
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