Der kleine Freund: Roman (German Edition)
ohnmächtig zu werden.
Zehn. Zwanzig Sekunden. Dreißig. Sie spürte, wie das Blut immer heftiger in ihren Schläfen pochte.
Fünfunddreißig. Vierzig. Harriets Augen tränten, und das Herz pochte bis in die Augäpfel. Bei fünfundvierzig fing ihre Lunge an, krampfhaft zu flattern, und sie musste sich die Nase zuhalten und eine Hand auf den Mund pressen.
Achtundfünfzig. Neunundfünfzig. Die Tränen strömten, sie konnte nicht mehr stillsitzen, sie stand auf und drehte sich in einem hektischen kleinen Kreis vor dem Sofa herum, wedelte mit der freien Hand in der Luft, und ihr Blick sprang verzweifelt von einem Gegenstand zum andern – Schreibtisch, Tür, Sonntagsschuhe, Spitze an Spitze auf dem taubengrauen Teppich –, während das Zimmer von ihrem donnernden Herzschlag erzitterte und die Mauer aus Zeitungen wie unter den Vorboten eines Erdbebens zu rascheln begann.
Sechzig Sekunden. Fünfundsechzig. Die rosa Streifen in den Vorhängen hatten sich blutig rot verdunkelt, und das Licht der Lampe entwirrte sich zu langen, irisierenden Tentakeln, die in irgendeiner unsichtbaren Flut hin und her wehten, bis auch sie sich zu verdunkeln begannen und die pulsierenden Ränder schwarz wurden, während sie in der Mitte immer noch weiß brannten, und irgendwo hörte sie eine Wespe summen, irgendwo an ihrem Ohr, aber vielleicht auch nicht, vielleicht war es irgendwo in ihr; das Zimmer drehte sich, und plötzlich konnte sie sich die Nase nicht mehr zuhalten, ihre Hand zitterte und wollte nicht mehr gehorchen, und mit einem langen, qualvollen Röcheln fiel sie in einem Funkenregen rückwärts auf das Sofa und drückte mit dem Daumen auf die Stoppuhr.
Lange lag sie hechelnd da, während die phosphoreszierenden Feenlichter sacht von der Decke herabschwebten.
Ein gläserner Hammer schlug mit kristallenem Klang in ihrem Hinterkopf. Ihre Gedanken spulten sich auf und wieder ab und bildeten ein verschlungenes Goldfiligran, dessen zarte Muster durch ihren Kopf wehten.
Als die Funken träger flogen und sie schließlich wieder aufrecht sitzen konnte – schwindlig noch und an die Sofalehne geklammert
–, schaute sie auf die Stoppuhr. Eine Minute und sechzehn Sekunden.
Das war eine lange Zeit, länger, als sie beim ersten Versuch erwartet hatte, aber Harriet fühlte sich sehr sonderbar. Die Augen taten ihr weh, und es war, als sei der ganze Inhalt ihres Kopfes durcheinander gerüttelt und zusammengepresst worden, sodass sich das Hören mit dem Sehen vermischte und das Sehen mit dem Schmecken, und ihre Gedanken waren von all dem so wirr wie ein Puzzle, bei dem sie nicht wusste, welches Teil wohin gehörte.
Sie versuchte aufzustehen. Es war, als wolle sie in einem Kanu stehen, und sie setzte sich wieder. Echos, schwarze Glocken.
Nun ja, niemand hatte gesagt, dass es einfach sein würde. Wenn es so einfach wäre zu lernen, wie man drei Minuten die Luft anhielt, dann würde jeder auf der Welt es tun, nicht bloß Houdini.
Eine Weile blieb sie sitzen und atmete tief durch, wie sie es im Schwimmunterricht gelernt hatte, und als sie wieder ein wenig zu sich gekommen war, holte sie noch einmal tief Luft und drückte auf die Uhr.
Diesmal war sie entschlossen, nicht auf die Zahlen zu schauen, während sie tickten, sondern sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Der Anblick der Zahlen machte alles nur noch schlimmer.
Das Unbehagen nahm zu, und ihr Herz schlug lauter; funkelnde Nadelstiche trippelten in eisigen Wellen wie Regentropfen flink über ihre Kopfhaut. Ihre Augen brannten. Sie machte sie zu. In der pulsierenden roten Dunkelheit regnete ein spektakulärer Schauer von glühender Asche hernieder. Eine schwarze Truhe, mit Ketten umschlungen, polterte über die losen Steine eines Flussbetts, von der Strömung mitgerissen, bamm, bamm, bamm – etwas Schweres, Weiches war darin, ein Körper –, und ihre Hand fuhr hoch und drückte die Nase zu, wie um einen üblen Geruch fern zu halten, und noch immer rollte die Truhe weiter über bemooste Steine, und ein Orchester spielte irgendwo in einem blattgoldverzierten Theater mit
gleißenden Kronleuchtern, und Harriet hörte Edies klaren Sopran, der sich mit der Ballade des Seemanns Barnade Bill über die Geigen erhob.
Nein, das war nicht Edie, das war ein Tenor: ein Tenor mit schwarzem, von Brillantine glänzendem Haar, die behandschuhte Hand an die Smokingbrust gedrückt, das kalkweiß gepuderte Gesicht im Rampenlicht, Augen und Lippen dunkel wie bei einem Stummfilmschauspieler. Er
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