Der kleine Freund: Roman (German Edition)
diesen Sommer nicht hin?«
»Komm schon.« Ida Rhew kam mit ihrem eigenen Lunch, einem Teller mit Hühnchensandwich, hereingestürmt. Im Sommer zuvor hatte Allison sie nach Dark Shadows süchtig gemacht. Ida hatte es mit ihr angeschaut, zunächst voller Argwohn, aber dann verpasste sie es während des Schuljahrs nicht einen Tag, und wenn Allison nach Hause kam, setzte sie sich mit ihr zusammen und erzählte ihr alles, was passiert war.
Harriet lag hinter verschlossener Tür im Bad auf dem kalten Fliesenboden, hielt den Füller einsatzbereit über das Scheckbuch ihres Vaters und sammelte sich einen Augenblick lang, bevor sie anfing zu schreiben. Sie war gut darin, die Handschrift ihrer Mutter zu fälschen, und noch besser ging es mit der ihres Vaters, aber bei seinem schwungvollen Strich durfte sie nicht einen Moment zögern; sobald die Feder das Papier berührte, musste sie schnell durchschreiben, ohne nachzudenken, denn sonst sah es holprig und falsch aus. Edies Handschrift war ausgefeilter: aufrecht, altmodisch und balletthaft in ihrer Extravaganz, und es war schwierig, ihre hohen, meisterlichen Großbuchstaben flüssig zu kopieren, sodass Harriet langsam arbeiten und immer wieder innehalten musste, um ihr Werk mit einer Schriftprobe von Edie zu vergleichen. Das Resultat war passabel, aber auch wenn andere Leute sich davon täuschen ließen, gelang es doch nicht immer und bei Edie nie.
Harriets Füller schwebte über der leeren Linie. Die gespenstische Titelmusik von Dark Shadows wehte jetzt durch die geschlossene Badezimmertür.
Zahlungsempfänger: Alexandria Country Club , warf sie in der breiten, nachlässigen Handschrift ihres Vaters herrisch auf das Papier. Einhundertachtzig Dollar . Dann die große Banker-Unterschrift – der leichteste Teil. Sie atmete in lang gezogenem Seufzern aus und betrachtete das Ergebnis: ganz gut. Es waren Schecks der Bankfiliale am Ort, und deshalb kamen die Auszüge hierher nach Hause und gingen nicht nach Nashville; wenn der entwertete Scheck zurückkäme, würde sie ihn aus dem Umschlag nehmen und verbrennen, und niemand würde etwas merken. Seit sie das erste Mal wagemutig genug gewesen war, diesen Trick auszuprobieren, hatte Harriet kleckerweise über fünfhundert Dollar vom Konto ihres Vaters entwendet. Er war es ihr schuldig, fand sie, und wenn sie nicht befürchten müsste, ihr System auffliegen zu lassen, hätte sie ihn mit Vergnügen restlos ausgeplündert.
»Die Dufresnes«, sagte Tante Tat, »sind kalte Menschen. Sie waren immer schon kalt. Und dass sie besonders kultiviert wären, habe ich auch nie bemerkt.«
Harriet war der gleichen Meinung. Ihre Onkel auf der Seite der Dufresnes waren alle mehr oder weniger wie ihr Vater: Jäger und Sportsfreunde, die laute und raue Reden führten und sich schwarze Tönung in ihr ergrauendes Haar kämmten, alternde Variationen des Elvis-Themas mit Bierbäuchen und albernen Stiefeln. Sie lasen keine Bücher; ihre Witze waren derb, und in ihren Manieren und Vorlieben waren sie ungefähr eine Generation vom ländlichen Lumpenproletariat entfernt. Nur einmal war sie ihrer Großmutter Dufresnes begegnet, einer reizbaren Frau mit rosa Plastikperlen und Stretch-Hosenanzügen, die in einer Eigentumswohnung in Florida wohnte, in der es Glasschiebetüren und Tapeten mit metallglänzenden Giraffen gab. Harriet war einmal für eine Woche zu ihr hinuntergefahren und wäre vor Langeweile beinahe wahnsinnig geworden, denn Großmutter Dufresnes hatte keinen Bibliotheksausweis und besaß keine Bücher außer der Biographie eines Mannes, der die Hilton-Hotelkette gegründet hatte, und ein Paperback mit dem Titel LBJ mit den Augen eines Texaners gesehen . Ihre Söhne hatten sie aus der ländlichen Armut von Tallahatchie County geholt und ihr die Wohnung in einer Rentnerkolonie in Tampa gekauft. Jedes Jahr zu Weihnachten schickte sie eine Schachtel Grapefruit, aber ansonsten hörten sie selten von ihr.
Natürlich spürte Harriet die Abneigung, die Edie und die Tanten ihrem Vater entgegenbrachten, aber sie ahnte nicht, wie erbittert sie wirklich war. Er sei nie ein aufmerksamer Ehemann und Vater gewesen, tuschelten sie – nicht einmal, als Robin noch lebte. Es sei verbrecherisch, wie er die Mädchen ignoriere. Es sei verbrecherisch, wie er seine Frau ignoriere – zumal nach dem Tod ihres Sohnes. Er habe einfach in der Bank weitergearbeitet wie immer und sich nicht einmal freigenommen, und sein Sohn sei kaum einen Monat unter der Erde
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