Der kleine Freund: Roman (German Edition)
hat ihn mit der Post geschickt«, sagte Harriet.
»Wo steckt der alte Dix überhaupt? Hab ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«
Harriet zuckte die Achseln. Sie konnte ihren Vater zwar nicht leiden, aber sie wusste doch, dass sie über ihn nicht tratschen oder sich beschweren sollte.
»Na, wenn du ihn siehst, frag ihn doch mal, ob er mir nicht auch einen Scheck schicken kann. Diese Lautsprecher hätte ich wirklich gern.« Er schob die Zeitschrift über die Theke und zeigte sie ihr.
Harriet betrachtete sie. »Die sehen alle gleich aus.«
»Überhaupt nicht, Sweetie. Diese Blaupunkt-Dinger sind so sexy wie nichts sonst. Siehst du? Ganz schwarz, mit schwarzen Knöpfen am Receiver? Und siehst du, wie klein sie sind, verglichen mit den Pioneers?«
»Na, dann kauf sie dir doch.«
»Das mach ich, wenn du deinen Dad dazu bringst, mir dreihundert Mäuse zu schicken.« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie auf seinem Teller aus, dass es zischte. »Sag mal, wo ist eigentlich mein durchgeknallter Bruder?«
»Weiß ich nicht.«
Pemberton lehnte sich über die Theke und schob vertraulich die Schultern nach vorn. »Wieso lässt du ihn eigentlich bei dir herumlungern?«
Harriet starrte die Ruinen von Pems Lunch an: kalte Fritten, die zerdrückte Zigarette zischend in einem Klecks Ketchup.
»Geht er dir nicht auf die Nerven?«, fragte Pemberton. »Und wieso muss er sich bei dir anziehen wie eine Frau?«
Harriet blickte verdutzt auf
»Du weißt schon, in Marthas Hausmänteln.« Martha war Pems und Helys Mutter. »Er findet es toll. Immer wenn ich ihn sehe, läuft er aus dem Haus und hat irgendeinen verrückten
Kissenbezug oder ein Handtuch auf dem Kopf oder so was. Er sagt, du willst das so.«
»Will ich nicht.«
»Komm schon, Harriet .« Er sprach ihren Namen aus, als finde er daran etwas leicht Lächerliches. »Ich fahre an deinem Haus vorbei, und immer hast du sieben oder acht kleine Jungs da, die in Bettlaken bei euch im Garten rumhängen. Ricky Ashmore nennt euch den Baby-Ku-Klux-Klan, aber ich glaube, du zwingst sie bloß gern, sich als Mädchen zu verkleiden.«
»Das ist ein Spiel«, sagte Harriet stur. Sie ärgerte sich über seine Beharrlichkeit; die Bibel-Spiele gehörten längst der Vergangenheit an. »Hör mal, ich wollte mit dir reden. Über meinen Bruder.«
Jetzt war es Pemberton, dem unbehaglich zumute wurde. Er nahm die Hi-Fi-Zeitschrift und blätterte mit bemühter Sorgfalt darin herum.
»Weißt du, wer ihn umgebracht hat?«
»Tjaaa«, sagte Pemberton durchtrieben. Er legte die Zeitschrift hin. »Ich werde dir etwas verraten, wenn du versprichst, dass du es keiner Menschenseele weitersagst. Du kennst die alte Mrs. Fountain, die neben euch wohnt?«
Harriet schaute ihn mit so unverhohlener Verachtung an, dass er sich ausschütten wollte vor Lachen.
»Was?«, sagte er. »Du glaubst das nicht, das mit Mrs. Fountain und all den Leuten, die unter ihrem Haus begraben sind?« Ein paar Jahre zuvor hatte er Hely eine Heidenangst eingejagt, indem er ihm erzählt hatte, dass jemand Menschenknochen gefunden hätte, die aus Mrs. Fountains Blumenbeet ragten, und dass Mrs. Fountain ihren Mann ausgestopft und in einen Sessel gesetzt hätte, damit er ihr abends Gesellschaft leistete.
»Du weißt also nicht, wer es war.«
»Nein«, sagte Pemberton kurz angebunden. Er erinnerte sich noch, wie seine Mutter zu seinem Zimmer heraufgekommen war (er hatte gerade ein Modellflugzeug zusammengebaut – irre, was einem manchmal so im Gedächtnis blieb) und ihn in den Flur herausgerufen hatte, um ihm zu erzählen, dass
Robin tot war. Es war das einzige Mal, dass er sie je hatte weinen sehen. Er selbst hatte nicht geweint. Er war neun und verstand nichts; er war einfach wieder in sein Zimmer gegangen und hatte die Tür zugemacht und unter einer Wolke wachsenden Unbehagens weiter an seiner Sopwith Camel gearbeitet; und er konnte sich noch erinnern, wie der Klebstoff an den Nähten herausgequollen war; beschissen hatte es ausgesehen, und schließlich hatte er das Ding unvollendet weggeworfen.
»Du solltest mit solchen Sachen keine Witze machen«, sagte er zu Harriet.
»Ich mache keine Witze. Es ist mir todernst«, sagte Harriet hochfahrend. Nicht zum ersten Mal fiel Pemberton auf, wie sehr sie sich von Robin unterschied; man konnte kaum glauben, dass sie verwandt waren. Vielleicht lag es zum Teil an ihren dunklen Haaren, dass sie so ernst wirkte, aber anders als Robin hatte sie etwas
Weitere Kostenlose Bücher