Der kleine Freund: Roman (German Edition)
fragte sie. »Ihr beide seht aus wie zwei kleine Marsmenschen.«
Und wirklich, so sahen sie aus. Helys und Harriets Augen leuchteten rund und rot wie die Augen von kleinen Nachttieren, die unverhofft von Autoscheinwerfern erfasst worden waren, und ihre schreckensstarren Gesichter waren vom Blitzlicht in ungesundes Grün getaucht.
KAPITEL 3.
Der Billardsaal.
Manchmal stellte Ida, bevor sie abends nach Hause ging, etwas Leckeres zum Abendessen hin: Ragout, Brathuhn, mitunter sogar Pudding oder eine Obstpastete. Aber heute standen nur ein paar Reste auf der Theke, die sie loswerden wollte: uralte Schinkenscheiben, fahl und schleimig vom langen Herumliegen in Plastikfolie, und ein paar kalte Stampfkartoffeln.
Harriet kochte vor Wut. Sie machte die Tür zur Speisekammer auf und starrte ins Halbdunkel, auf die ordentlichen Regale, die zum Bersten voll waren mit Gläsern mit Mehl und Zucker, Trockenerbsen und Maismehl, Makkaroni und Reis. Harriets Mutter aß abends selten mehr als ein paar Häppchen, und oft war sie mit einem Schälchen Eis oder einer Hand voll Cracker zufrieden. Manchmal machte Allison Rührei, aber Harriet hatte allmählich genug von den vielen Eiern.
Spinnweben der Lustlosigkeit wehten über sie hin. Sie brach ein Stück von einer Spaghetti ab und lutschte daran. Der mehlige Geschmack war ihr vertraut – wie Teig – und ließ einen ganz unerwarteten Sprudel von Bildern aus dem Kindergarten in ihr aufsteigen... grüne Bodenfliesen, hölzerne Bauklötze, die so angemalt waren, dass sie wie Ziegelsteine aussahen, Fenster, die so hoch waren, dass man nicht hinaussehen konnte...
Gedankenverloren und noch immer auf dem Spaghettisplitter kauend, die Stirn auf eine umständliche Weise gerunzelt, die ihre Ähnlichkeit mit Edie und Richter Cleve hervortreten ließ, zog Harriet einen Esszimmerstuhl zum Kühlschrank. Sie stieg auf den Stuhl und durchwühlte schlecht gelaunt die knisternden Packungen im Gefrierfach. Aber auch da war nichts Brauchbares; nur ein Karton von dem ekelhaften Pfefferminzeis,
das ihre Mutter so sehr liebte (an manchen Tagen, vor allem im Sommer, aß sie überhaupt nichts anderes), lagerte vergraben unter einem Berg von Alufolienklumpen. Industrienahrung war ein fremdartiger und absurder Begriff für Ida Rhew, die für den Lebensmitteleinkauf zuständig war, und Fertiggerichte fand sie ungesund (auch wenn sie manchmal welche kaufte, weil es sie im Sonderangebot gab). Snacks zwischen den Mahlzeiten tat sie als alberne Mode aus dem Fernsehen ab. ( »Snack? Wozu brauchst du ’n Snack, wenn du dein Mittagessen aufisst?«)
»Sag’s deiner Mutter«, flüsterte Hely jedes Mal, wenn er Harriets Missmut mitbekam. »Sie muss tun, was deine Mutter sagt.«
»Ja, ich weiß.« Helys Mutter hatte Roberta gefeuert, als Hely ihr erzählt hatte, dass Roberta ihn mit einer Haarbürste geschlagen hatte, und sie hatte Ruby gefeuert, weil sie Hely nicht erlaubt hatte, V erliebt in eine Hexe zu sehen.
»Mach’s. Mach’s.« Hely stupste sie dann mit seinem Turnschuh an.
»Später.« Aber das sagte sie immer nur, um ihr Gesicht zu wahren. Harriet und Allison beschwerten sich niemals über Ida, und mehr als einmal – selbst wenn sie wegen irgendeiner Ungerechtigkeit wütend auf Ida gewesen war – hatte sie sogar gelogen und Schuld auf sich genommen, damit Ida nicht in Schwierigkeiten kam. Es war eine schlichte Tatsache, dass die Dinge bei Harriet zu Hause anders funktionierten als bei Hely. Hely hielt sich, wie Pemberton vor ihm, etwas darauf zugute, so schwierig zu sein, dass seine Mutter keine Haushälterin länger als ein oder zwei Jahre halten konnte. Er und Pem hatten fast ein Dutzend kommen und gehen sehen. Was kümmerte es Hely, ob es Roberta war oder Ramona oder Shirley oder Ruby oder Essy Lee, die vor dem Fernseher saß, wenn er aus der Schule nach Hause kam? Ida aber stand fest und unverrückbar im Mittelpunkt von Harriets Universum: geliebt, mürrisch und unersetzlich mit ihren großen freundlichen Händen und ihren runden, feuchten, vorquellenden Augen. Ihr Lächeln war wie das erste Lächeln, das Harriet auf der
Welt gesehen hatte. Es tat Harriet weh, wenn sie sah, wie achtlos ihre Mutter manchmal mit Ida umging, als ob sie nur vorübergehend durch ihr Leben reise und nicht fundamental mit ihnen verbunden sei. Harriets Mutter wurde manchmal hysterisch, und dann ging sie weinend in der Küche auf und ab und sagte Dinge, die sie nicht meinte (und die ihr nachher immer Leid taten). Die
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